Die aktuelle Kritik

Theater Waidspeicher Erfurt: „Animalisten“

von Inga Hettstedt

Die Uraufführung feiert das Tier in uns mit – Metamorphosen auf dem roten Sofa.

Manchmal bedarf es keiner Worte um ein Plädoyer zu halten. Dem Theater Waidspeicher Erfurt gelingt mit der Uraufführung die „Animalisten“ genau dieses Kunststück: Obwohl das gesamte Stück über kein Wort fällt, wird ganz viel Elementares gesagt. 

Die Versuchsanordnung ist bestechend einfach: Die Bühne – ein rotes Sofa. Der Ton – von Rhythmen und fein gewobenen Klangteppichen geprägt. Das Licht – fokussiert auf das Sofa. Die Protagonisten – fünf Menschen in tristem, konturlosem Grau. Die Puppen – anfangs verborgen. Doch das ändert sich.

Das rote Sofa entfaltet seine Anziehungskraft, wird von den Puppenspielern höchst facettenreich zunächst einzeln und zunehmend im Pulk erobert. Es ist Schauplatz der Konfrontation der fünf Spieler mit ihren unterdrückten Trieben, ihrem heimlichen Verlangen nach Nähe, ihren tiefsten Bedürfnissen. Mit Feingefühl und Witz werden Protagonisten wie Zuschauer mit Geheimnisvollem und Unerwartetem konfrontiert. Stück für Stück kommen die Puppen ins Spiel. Sie stehen für das Verborgene in uns, für unsere animalische Seite.

Nicht nur das Verhältnis von Mensch und Tier beschäftigt Generationen von Philosophen, Schriftstellern, Verhaltensforschern, Natur- und Kulturwissenschaftlern; auch das Tier in uns beschäftigt seit jeder den Menschen. Inspiriert, unter anderem durch die Darmstädter Künstlergruppe „Die Animalisten“, die um 1930 das Tierwerden der Menschen überwinden wollte, entwickelte der Stuttgarter Regisseur Frank Soehnle die skurril-theatralische Versuchsanordnung mit viel Bewegung, Geräuschen sowie Live-Musik und Sounds auf der Bühne. „Animalisten“ ist seine zweite Inszenierung am Theater Waidspeicher.

Wo beginnt das Tier und wo hört der Mensch auf? Und was hat dazwischen Platz? Ein jeder von uns trägt animalische Teile in sich – etwas Ursprüngliches, oft Verborgenes, manchmal zu Erahnendes und bisweilen auch aktiv Unterdrücktes. Eigenschaften, die immer mal auf- und durchblitzen; die sich „nicht gehören“, weil das vernunftbegabte Wesen Mensch so nicht ist. Oder etwa doch?

Es kommt, wie es kommen muss und die Metamorphose nimmt ihren Lauf. Die glatten schwarz-grauen Oberflächen weichen zunächst zögerlich dann beinahe zügellos Akzenten in Farbe, Bewegung und Ton. Das Sich-Wehren gegen das innere Tier wandelt sich in einen Prozess des Loslassens und der Hingabe. Und spätestens mit dem Ende der selbst auferlegten Disziplin fallen die letzten Hemmungen.  

Die tierische Spurensuche auf der Bühne des Theaters Waidspeicher findet im Inneren wie im Äußeren statt. Zutage tritt eine ganz eigene, ursprüngliche Schönheit. Aus verstörend skurrilen Ticks werden liebenswerte, authentische Eigenheiten. Je deutlicher sich die inneren Bestimmungen der fünf Protagonisten mittels der liebevoll gestalteten Puppen Bahn brechen, desto mehr scheinen die Charaktere nicht nur bei sich zu sein, sondern auch bei den anderen.

Die tierischen Puppen – darunter ein kontaktfreudiges Chamäleon, eine Spinne in roten High-Heels, eine musikalische Farn-Natter, ein gefiedertes Pudel-Pferd und eine ganze Schar anhänglicher fossiler Küken – bilden nicht nur eine spielerische, sondern auch eine charakterliche Einheit mit den Darstellern. Sie verhelfen den Spielern zu ihrer Animalität und unterstreichen diese gekonnt wie charmant. 

Dem Erfurter Puppentheater Waidspeicher gelingt zu seinem 40-jährigen Bestehen eine ganz besondere Uraufführung und ein grandioses Plädoyer auf das Tier in uns. Auch wenn das Stück für Besucher ab zwölf Jahren empfohlen wird, hat die Premiere gezeigt, dass es auch jüngeres Publikum zu begeistern vermag.

Was bleibt, ist das gute Gefühl, dass der Schlüssel zu einem zufriedenen Dasein darin liegt, die inneren Triebe, das Verlangen und die eigenen Bedürfnisse zu akzeptieren. Dass man, je mehr man bei sich ist, auch näher bei den anderen sein kann. Animalisten ist ein humorvolles Hohelied der Schönheit und ein berauschendes Fest auf das Leben.  

 

Animalisten
nach einer Idee von Frank Soehnle / Uraufführung

Besetzung:
Regie und Bühne: Frank Soehnle

Puppen: Kathrin Sellin
Kostüme: Mila van Daag
Komposition, Sound und Musikalische Einstudierung: Johannes Frisch
Dramaturgie: Susanne Koschig
Es spielen: Kathrin Blüchert, Steffi König, Heinrich Bennke, Tomas Mielentz, Maurice Voß

 

Nächste Termine:

17. September 2019, 11. Oktober 2019, 12. Oktober 2019, 26. Oktober 2019, 9. November 2019, 13. Dezember 2019, 25. Dezember 2019

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