Die aktuelle Kritik

Schauspiel Köln: "Der Weg zurück"

Von Laura Becker

Was hat uns der ganze Fortschritt in Zeiten von immer neuen Virusvarianten und Krieg überhaupt gebracht? Was, wenn wir den Glauben an ihn verlieren, wenn wir Wissenschaft und Forschung stattdessen gänzlich ablehnen? Moritz Sostmann bringt am Schauspiel Köln Dennis Kellys posttechnologisches Gedankenspiel auf die Bühne.

Kelly unternimmt in seiner 2021 am Berliner Ensemble uraufgeführten Dystopie ein Gedankenexperiment: Was wäre, wenn sich eine antiwissenschaftliche Bewegung in der Gesellschaft durchsetzen würde? Innerhalb von fünf Generationen erzählt er die Geschichte der sogenannten „Regression“, einer totalitären gesellschaftlichen Umwandlung, von ihrem Ursprung bis zu ihrer vollständigen Ausbreitung. Moritz Sostmann inszeniert das in Zeiten von Informations- und Meinungskriegen äußerst aktuelle Stück kurzweilig als eine Art Familienalbum, wenn auch das Puppenspiel darin etwas zu kurz kommt.

Zu Beginn betritt Seán McDonagh als esoterisch anmutender Speaker in weitem Leinenanzug, Sandalen und großem Headset (Kostüm: Lise Kruse) die Bühne. In einer Art TED Talk erzählt er mitreißend und überzeugend seine Geschichte: Wie seine Frau Cas und er es nicht schafften, auf natürlichem Wege ein Kind zu bekommen, wie sie schließlich alles Geld zusammenkratzten, um mit Hilfe neuester Medizintechnologie doch noch schwanger zu werden. Und schließlich berichtet er, wie die Katastrophe eintrat und die Frau kurz nach der Geburt verblutete, wie all der Fortschritt seine Frau nicht retten konnte, sondern im Gegenteil, sie getötet hat. Der Grundstein zu seiner Radikalisierung war gelegt. Nachvollziehbar – oder nicht?

"Der Weg zurück" © Tommy Hetzel

Dann der erste Zeitsprung: Die Tochter des Witwers, Dawn (Anna Stieblich), erzählt, wie sie den viel jüngeren Jonathan (Kei Muramoto) kennenlernt, einen Aktivisten der von ihrem Vater gegründeten Regressionsbewegung. Er setzt auf Gewalt, um Forderungen durchzusetzen, plant Anschläge und stirbt schließlich bei einer Bombenlegung. Die Erotik zwischen ihr und dem nur ein Drittel so alten Jonathan wirkt dabei etwas unglücklich. Sie winden und räkeln sich in Farbe, die sie aus Eimern über sich schütten auf der anfänglich weißen Schräge, die Bühnenbildner Christian Beck in das ansonsten als Werkstatt ausgestattete Depot 2 gebaut hat. Am rechten Bühnenrand aufgereiht hängen alle Puppen aus Sostmanns vergangenen Inszenierungen (Puppenbau: Hagen Tilp), als stumme Zuschauer:innen und als die Gesellschaft, die den Wandel Schritt für Schritt vollzieht. Ab und zu bedienen sich Spieler:innen aus der Puppensammlung, um ihre Geschichten zu illustrieren. Insgesamt aber würde man sich die Puppen für mehr als eine buchstäbliche Randerscheinung innerhalb der Inszenierung wünschen. So bleibt die starke Szene, wie die Zwillinge Dawns und Jonathans (Kristin Steffen und Paul Basonga) während ihrer Rede über die neuen Gesetze der Regressionsbewegung brutal realistisch einer Puppe den Kopf in einem Schraubstock zerquetschen, einer der einzigen Puppenmomente.

"Der Weg zurück" © Tommy Hetzel

Der Rückschritt in dieser Generation ist bereits deutlich spürbar. Nicht nur Wissenschaft wird verteufelt, auch entbrennt ein Streit zwischen Bruder und Schwester über die Rolle der Frau und ihren Umgang mit Sexualität. Denn eine Gesellschaft, die Fortschritt ablehnt, lehnt auch Selbstbestimmung und Gleichstellung ab. Und Kelly treibt die Verrohung der Gesellschaft immer noch weiter. Justizorgane gibt es nicht mehr, die Bürger:innen üben ihre eigene Form der Vergeltung. Dieser fällt besonders der nächste Nachkomme (Andreas Grötzinger) zum Opfer, welcher als uneheliches Findelkind erst ausgesondert und schließlich brutal entstellt wird. Grötzinger, beängstigend ruhig, skizziert mit schwarzer Farbe auf der Bühne die Erlebnisse seiner Figur und wie sie letztlich selbst Rache an den Menschen übt.

Zum Schluss hat sich der Wandel vollständig vollzogen. Wir sehen ein Kind, bezaubernd dargestellt von Kristin Steffen, wie es nur noch einsilbig sprechend – denn auch die vereinfachte Sprache ist Teil der Regression – von ihren Abenteuern erzählt. So entlässt das Stück das Publikum nicht ohne einen letzten Hoffnungsschimmer: kindliche Neugierde und der intuitive Wunsch, die Welt zu entdecken, stehen am Ende des Abends.

---

Der Weg zurück. Von Dennis Kelly, aus dem Englischen von John Birke.

Premiere: 02.06.2022

Weitere Vorstellungstermine im Juni und September und über die Theaterwebsite.

Regie: Moritz Sostmann

Bühne: Christian Beck

Kostüme: Lise Kruse

Puppenbau: Hagen Tilp

Dramaturgie: Thomas Jonigk

Licht: Jan Steinfatt

Ton: Axel Block

Fotos: Tommy Hetzel

Mit: Paul Basonga, Andreas Grötzinger, Seán McDonagh, Kei Muramoto, Kristin Steffen und

Anna Stieblich

0 Kommentare

Neuer Kommentar