Die aktuelle Kritik

Puppentheater Zwickau: "360° Virtual Puppetry: Der Erlkönig"

Von Jessica Hölzl

"Wer reitet so spät durch Nacht und Wind?" – Das Puppentheater Zwickau startet mit Goethes Erlkönig eine ganz besondere Puppentheaterserie.

Die wiederholten Schließungen von Theatern und anderen Kultureinrichtungen in zwei Jahren Pandemie haben bereits verschiedene Experimente von Livestream über Zoomsessions bis hin zu vielfältigen Gaming-Produktionen hervorgebracht, die versuchen, das kollektive Erlebnis einer Live-Bühnen-Situation in Formate für den Gebrauch auf dem heimischen Sofa zu überführen. Im langen Coronawinter 2022, der zwar seit Mitte Januar durch eine Vielzahl von Lockerungen geprägt ist, zugleich aber auch durch enorm hohe Infektions- und Quarantänezahlen, feiert das Puppentheater Zwickau den Auftakt einer Serie der besonderen Art.

„360° Virtual Puppetry“, so die Überschrift, die „Puppentheater in einer virtuellen (IR-)Realität“ ankündigt. Über den „Jetzt bestellen“-Button kann man mit wenigen Klicks das Theatererlebnis nach Hause holen. Ein paar Tage später kommt ein Päckchen an, mit VR-Brille plus Anleitung, Kopfhörern und Rücksendeschein. Sehr aufregend!
Weil ich bereits ein bisschen Erfahrung mit dem Medium habe, setze ich mich auf einen Sessel mit Drehfunktion – sehr empfehlenswert, so viel vorweg. Sind Brille samt Kopfhörern gut eingestellt, kann es losgehen. Nach kurzer Gebrauchsanweisung plus Einstiegsübung befinde ich mich im Saal der Zwickauer Puppenbühne. Per Blick steuere ich das Menü an, stelle die gewünschte Lautstärke ein und starte das VR-Theatererlebnis.

Das Setting ist schlicht – knorrige Bäume deuten einen fahlen Wald an, trockene Blätter fallen durch den virtuellen Raum, bedecken dicht den Boden und leiten auch unerfahrene Zuschauer*innen durch die Besonderheiten des Mediums: Beim Blick nach unten leichten Schwindel erleben; den Kopf in den Nacken legen, um die Herbstblätter taumeln zu sehen; sich nach rechts und links wenden, um zu sehen, woher die Geräusche kommen, die das Spielfeld eröffnen.

Die Einstiegsszene verspricht viel: Aus allen Richtungen erklingt ein Schnauben und auch das Scharren von Hufen ist zu vernehmen. Der Ursprung dieser Geräusche ist ein riesiges, von vier Spieler*innen geführtes Pferd, das sich übergroß vor meinem Gesicht aufbäumt, scheut, durch ein Umsetzen seiner metallenen Glieder abrupt die Richtung wechselt und davon galoppiert. Wohlbekannt erklingen die ersten Verse des „Erlkönigs“ von Johann Wolfgang von Goethe, mit dem das Puppentheater Zwickau die VR-Balladenreihe eröffnet. Der starke Einstieg in die Ballade eröffnet eine virtuelle Spielfläche, die mich in ihrer schlichten Ästhetik und mit liebevoll ausgearbeiteten Figuren und Puppen ergreift, die jedoch im Folgenden durchaus ein wenig mehr hätte ausgereizt werden können.

Stark sind besonders die Szenen, in denen Figuren, knochige Wesen, skelettartige Fische und lieblich geflügelte Totenmasken um das Kind werben. Besonders beeindruckt ein überdimensionaler Hirsch mit grinsendem Schädel und gigantischem Geweih, dessen Animation durch besonders raffinierte Spielweise – eine Spielerin führt seine Vorderbeine, indem sie gekrümmt unter seinem Vorderleib kauert und dadurch anmutige Wendungen ermöglicht – sehr überzeugt. Vater und Sohn werden von Spieler*innen in romantischen Gewändern und mit langem Haar verkörpert. Sie treten in einen starken Kontrast zu den dinglichen Akteur*innen, die das Kind aus dem Jenseits locken.

Schwarze Kleidung und halbmaskenhaft geschminkte Gesichter der Spieler*innen führen dazu, dass diese mit dem Hintergrund beinahe verschwinden; ob man diesen Effekt durch virtuelles Ausfaden hätte verstärken müssen, bleibt fraglich. Auch einige andere Effekte wirken weniger wie dramaturgisch bedingte Ausgestaltungen der Ballade, als vielmehr wie Versuche, das Medium und seine Möglichkeiten selbst auszuloten. So gestaltet sich der lang andauernde Aufstieg in den Himmel zwar als für Einsteiger*innen technisch wirklich beeindruckend, doch erzählt dieser Kniff inhaltlich wenig. Die angekündigte Interaktivität könnte hingegen etwas mehr ausgereizt werden, zieht sich doch insgesamt eine recht frontale Perspektive durch den virtuellen Raum.

Es ist absolut nachvollziehbar, in einem ersten Experiment zunächst das Medium selbst auszutesten, Möglichkeiten zu prüfen und seine Tauglichkeit für figuren- und puppentheatrale Kontexte zu erproben. Und doch hätte man sich ein bisschen mehr Wagemut gewünscht, z. B. wirklich Szenen im 360°-Modus zu gestalten, in denen die zuschauende Person nicht alles sehen kann. Oder Szenen, in denen das Publikum im virtuellen Raum „physisch“ oder aktiv eingebunden wird.

So viel zur Kritik – um dennoch abschließend eine große Empfehlung auszusprechen, ist „Der Erlkönig“ doch nur der allererste Start einer VR-Balladenreihe für die häusliche Quarantäne, das Klassenzimmer oder als Event mit Freund*innen und Familie, die ab Mai 2022 mit „Die Goldgräber“ von Emanuel Geibel sowie Georg Trakls „Melusine“ ab Februar 2023 sicherlich noch einige spannende Überraschungen bereithalten wird.

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Public Viewing Premiere: 29.01.2022
Individueller VR-Versand: seit dem 14.02.2022
Regie: Monika Gerboc
Ausstattung: Ewa Woźniak, Eva Farkašová, Rafał Budnik
Puppenbau: Rafał Budnik
Dramaturgie: Dominique Suhr
Musik: Daniel Špiner
Spieler/innen: Hanna Daniszewska, Laura Waltz, Calum MacAskill, Camillo Fischer und Martha Stöckner (als das Kind)
Erlkönigs Stimme: Błazej Modelski
Fotos: © Kultour-Z

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