Die aktuelle Kritik

Anhaltisches Theater Dessau: „Das schiefe Haus“

Von Thilo Sauer

Die Welt gerät aus den Fugen – nachvollziehbar, wenn Eltern ihre Kinder vor schlechten Nachrichten schützen wollen, doch diese bekommen mehr mit als gedacht! Im neuen Stück von Thomas Freyer flüchten Kinder auf einen Dachboden und fordern Offenheit von ihren Eltern.

Zu Beginn des Stücks ein (sehr) lauter Knall: Teile der Holzfassade springen aus der Fassung und geben den Blick aufs Innere der drei verschachtelten Dachgiebel frei, die Nancy Ungurean auf die Puppentheaterbühne des Anhaltischen Theaters Dessau gebaut hat. Im Laufe der Inszenierung verändert sich der Dachboden immer weiter: Ein geöffnetes Dachfenster wird zur Sitzgelegenheit, eine Vorratskammer taucht auf – und mit Anstrengung der beiden Spielerinnen wird das Haus gedreht und immer näher an das Publikum herangeschoben.

Für ihre Puppen greift Kristin Schneidenbach auf simple Stoffleiber mit hölzernen Händen und Füßen zurück. Ihre Stärken liegen in den Details: Die relativ kleinen Puppen sind unterschiedlich groß, eine trägt eine kleine Brille, bei einer sind die leuchtend roten Haare hochgekämmt, die andere hat eine Perücke aus schulterlangen Haaren mit einem Pony. Es macht Spaß, dabei zuzusehen, wie die Spielerinnen Kerstin Dathe und Bianka Drozdik die kleinen Figuren durch den Dachboden krauchen lassen.

Immer wieder bemerkenswert ist, welche Einblicke Puppentheater in die Welten von Kindern ermöglicht: Auf dem Dachboden verstecken sich die Kinder des Mietshauses. Sie alle erzählen ähnliche Geschichten von Eltern, die komisch sind, sich zurückziehen, voller Sorgen sind, diese aber nur besprechen, wenn sie sich unbeobachtet von den Kindern wähnen. Der Text deutet diese Sorgen lediglich an. Sie klingen so nebulös, wie sie den Kindern erscheinen müssen, doch die belesenen Erwachsenen im Publikum werden sie wohl gleich deuten: Arbeitslosigkeit, Krieg, Inflation, Gewalt auf den Straßen und vieles mehr.

Autor Thomas Freyer schreibt nicht zum ersten Mal für junges Publikum, doch hat er in letzter Zeit eher Themen wie das geteilte Deutschland, die Treuhand oder den Rechtsruck bearbeitet – Themen also, die auch in „Das schiefe Haus“ eine Rolle spielen. Seine verdichtete Sprache klingt überraschend natürlich aus den Mündern der Puppenkinder. Die sind inzwischen ziemlich verärgert, dass die Erwachsenen über all ihre Sorgen gar nicht merken, wo ihre Kinder sich versteckt haben. Sie wollen gefunden werden, um dem ungemütlichen Dachboden zu entkommen, fordern aber vorher dennoch Ehrlichkeit von Ihren Eltern.

Die Inszenierung von Sebastian Stolz überzeugt mit Witz und Charme. Mit viel Energie bewegen Kerstin Dathe und Bianka Drozdik die Figuren durch den verwinkelten Dachboden. Hin und wieder lassen sie ihre Protagonist:innen auf eine Tonne springen, wo sie in Form von Monologen persönliche Einblicke geben. Besonders lustig ist beispielsweise, wie der kleine Fabian sich an die liebevollen Worte von der älteren Nele erinnert, die bei ihr in der später gespielten Szene aber schnippisch und sarkastisch klingen. Die Umarmung ist dann aber wirklich so, wie er sie sich vorstellt. Dieses Spiel mit der Realität kennt vor allem Irene, die sich immer wieder als jemand anderes ausgibt, sich älter und erwachsener macht – im nächsten Moment wird sie aber wieder zu einer Fünfjährigen voller Übermut. Wenn sie ihren Hund an der Leine schüttelt, damit dieser Sitz macht, bleibt – witzigerweise – komplett unklar, ob dieser Hund nun echt oder tatsächlich nur eine Puppe ist.

„Ist okay. Angst haben“, sagt Enno, der Bruder von Sasch, zu Irene. Darin liegt die zentrale Botschaft dieses Stücks: Wir dürfen sagen, dass wir Angst haben. Wir dürfen und sollten darüber sprechen, wovor wir Angst haben. Denn verstecken können wir sie doch nicht. Viel wichtiger als Angstlosigkeit ist die Hoffnung, dass man Probleme gemeinsam lösen kann.

Doch kommt das auch richtig an? Die Produktion von „Das schiefe Haus“ wird für Menschen ab sechs Jahren empfohlen und richtet sich auf den ersten Blick an die ganze Familie. Doch am Ende scheint es, als würden Eltern bei diesem Stück mehr lernen als ihre Kinder – was sich auch darin äußert, dass der jüngere Teil des Publikums ab der Hälfte ziemlich unruhig wird. Natürlich können auch junge Menschen viel aus dem Stück mitnehmen, zum Beispiel über Identität: „Ich bin Sasch. […] Und falls du blöd fragen willst: Bin kein Mädchen. Und ein Junge auch nicht“, erklärt die Puppe mit den roten Haaren. Die kleine Irene hingegen spielt mit allen Klischees, wenn sie mal eine 17-Jährige in der Pubertät ist und mal eine konservative alte Dame – Irene führt beispielhaft vor, dass wir alles sein können. Kindern wird gezeigt, dass sie das Gespräch mit ihren Eltern auch einfordern dürfen und können. Eltern sollten dieses Stück also auf jeden Fall sehen, und wenn sie ihre Kinder mitnehmen, sollten sie sich im Anschluss Zeit nehmen, um das Theatererlebnis gemeinsam zu besprechen.

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"Das schiefe Haus" 

Puppentheater von Thomas Freyer

Uraufführung am Anhaltischen Theater Dessau

Inszenierung: Sebastian Stolz

Bühne und Kostüme: Nancy Ungurean

Puppenbau: Kristin Schneidenbach

Assistenz Puppenbau: Ida Herrmann

Dramaturgie: Sahar Rezaei

Mit: Kerstin Dathe, Bianka Drozdik

Fotos: Claudia Heysel

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