Die aktuelle Kritik

systemrhizoma, Hannover: "HAPTO"

Von Tobias Knaack

In ihrer neuesten Produktion entwerfen die Fritz-Wortelmann-Preisträger*innen von 2017 auf interdisziplinäre Weise eine „Choreografie der Berührungspunkte“ mit starken Bildern.

Die Umarmung ist eine Erlösung – und irritiert zugleich. Langsam, fast zaghaft tastend bewegen sich die Hände die Rücken hoch hin zu einer Umarmung. Eng, immer enger umschlungen stehen die Performerinnen im leichten Nebel und dem Licht von vier Leuchtfeldern, wodurch sie zu einer Figur verschmelzen. Es ist ein Moment der Innigkeit, der Ruhe und des Friedens, der nach mehr als zwei Jahren Corona erlösend wirkt. Symbolisiert er doch das, wonach sich viele Menschen sehnen: Nähe und irgendwie das, was wir bis vor zwei Jahren diffus als Normalität bezeichnet hätten. Im selben Moment aber irritiert die Umarmung mit eben dieser Nähe und der Unmittelbarkeit nach langen Monaten der Abstandsregeln und Isolation. Und dass diese Nähe auch zu viel sein kann, zeigt sich nur einen Augenblick später: Was eben noch friedvoll und innig ist, entwickelt sich plötzlich unter bedrohlich ansteigenden elektrischen Klängen und im Licht eines langsamen Stroboskoplichts über verschiedene Figuren zu einem Ringen, einem Kampf.  

Die Unsicherheit und die Hoffnung, die Annäherung und die Distanzierung, das Verlangen und die Zurückweisung: Mit ihrer neuen Produktion „HAPTO“ haben systemrhizoma am Donnerstag eine Parabel auf die aktuelle Situation einer sich vorsichtig entspannenden pandemischen Lage auf die Bühne des QUARTIER Theaters Hannover gebracht. Das Stück wirkt dabei retrospektiv mit Blick auf Erfahrungen und Erlebnissen der vergangenen beiden Jahre, wenn sich Selina Glockner und Alba Scharnhorst (Künstlerische Leiterinnen des Projekts) zwar synchron, aber doch stets mit Abstand über die Bühne bewegen. Wenn sie sich annähern, nur um im letzten Moment doch auf Distanz zu bleiben. Wenn sie eine Schrittfolge hin zu einer Art Sprint auf der Stelle steigern, der eigentlich nur in einer erschöpften Umarmung enden kann, am Ende aber doch wieder nur die Ernüchterung der Einsamkeit steht. Oder wenn Atem symbolisierender Nebel als eigenständige Figur den gemeinsamen Raum erobert und verengt.

"HAPTO" © Tabea Below

„HAPTO“ hat aber genauso seinen Platz im Hier und Jetzt im Frühjahr 2022. In verschiedenen Figuren und Choreografien loten Glockner und Scharnhorst in rund 50 Minuten die Balance zwischen Nähe und Distanz immer wieder neu aus. Das interdisziplinäre Projekt, bestehend aus einem neun-köpfigen Team, bedient sich dabei Stilmitteln aus Tanz, Figurentheater und Bildender Kunst. Im Zusammenspiel von Bewegung, Licht und Musik entstehen immer wieder neue Eindrücke, etwa wenn abwechselnd Figuren mit schaumstoffartigen Stachelköpfen zwischen den beweglichen Lichtfeldern zaghaft hervorschauen, sich zwar vortasten, einen wirklichen Schritt ins Licht aber (noch) nicht wagen. Auf dem Weg in eine noch gemeinsam zu verhandelnde neue Normalität haben die Figuren einerseits noch einen durch die Stacheln stilisierten Schutzpanzer, der Abweisung und Abschottung zeigt. Andererseits wirken die Schaumstoffspitzen aber auch wie wieder ausgerichtete Antennen und die Bereitschaft zur Wiederaufnahme von Kontakt. Glockner und Scharnhorst visualisieren in "HAPTO" diese Ambivalenz, arbeiten mit Brüchen und verweigern den Zuschauenden damit bewusst eines: Eindeutigkeit.

Diese Frage von Nähe und Distanz und von individuellem Wohlbefinden und gemeinsam geteilten Räumen gab es selbstverständlich bereits vor der Corona-Pandemie. Es ist die permanent neu zu verhandelnde und letztlich sehr subjektive Frage nach einem "Zu viel und zu wenig" zwischen Menschen, nach der Balance zwischen einer Angst auf der einen Seite vor zu viel Berührung und einem Bedürfnis nach Nähe auf der anderen. Die Pandemie wirkt aber wie ein Katalysator, der die Frage gerade vor dem Hintergrund von Abstandsgeboten, Quarantäne, Isolation und nun langsam aufbrechenden Regeln und dem sich langsam anbahnenden Übergang in ein noch zu definierendes "neues Normal" gemeinsamen Erlebens noch viel stärker in den Fokus rückt. Die Pandemie hat - bei aller Subjektivität des Empfindens von "gesunder" Nähe und Distanz - jede Selbstverständlichkeit weggefegt, dieses grobe gemeinsame Verständnis, diese gesellschaftlich etablierte "Komfortzone".

"HAPTO" © Tabea Below

„HAPTO“ macht sichtbar, dass wir uns das wieder erarbeiten, Nähe und Distanz neu lernen und verhandeln müssen. Glockner und Scharnhorst zeigen das u. a. indem sie die vier mobilen Lichtfelder über die Bühne bewegen, sie zum Teil der Bewegung machen und sie an anderer Stelle wieder als verändertes Bühnenbild etablieren. Die beweglichen Flächen, die durch ihre Handhabung selbst als Figuren wahrgenommen werden können, stehen vor allem aber auch für die Zwischenräume, für diese individuelle "Zone um den Körper herum", wie Glockner es nennt. So zeigen die beweglichen Lichtfelder symbolisch aber auch, dass die Grenzen individuell sind - und dass diese sich immer wieder verschieben können. 

Glockner und Scharnhorst wollen mit „HAPTO“ denn auch ganz bewusst "keine Geschichte erzählen", die Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhebt oder die "Fragen beantwortet". Vielmehr geht es ihnen in ihrer Performance darum, „eine Oberfläche zu schaffen, sich ganz individuell mit einem Thema auseinanderzusetzen“, wie Glockner sagt. Das Stück setzt in rund 50 Minuten über die verschiedensten Stilmittel Reize, liefert Denkanstöße und spricht den Zuschauenden die Einladung aus, diese „Zwischenräume“ wahrzunehmen, für sich zu interpretieren und selbst zu füllen.   

Nach mittlerweile mehr als zwei Jahren Pandemie und der Gewissheit, dass Corona gekommen ist, um zu bleiben, stellt „HAPTO“ zum richtigen Zeitpunkt die richtige Frage. Jeder für sich, aber auch wir als Gesellschaft im Miteinander und in Begegnungen müssen in den kommenden Wochen, Monaten und Jahren die Zwischenräume erkunden, müssen uns gemeinsam durch diesen "Nebel" kämpfen und die Antworten immer wieder zusammen verhandeln: Wie sieht unser neues Normal von Berührungen, von Nähe und Distanz aus?

---

Hier geht's zum Trailer

Weitere Spieltermine in 2022:

08. + 09. + 10.04.  20 Uhr Quartier Theater Hannover

19. + 20. + 21.05.  20 Uhr Theaterhaus Hildesheim

03. + 04.09  19 Uhr Ufer_Studios Berlin

Termine für das Figurentheater Osnabrück folgen

Team:
Künstl. Leitung, Choreografie, Performance: Selina Glockner & Alba Scharnhorst

Lichtdesign: Thimo Kortmann

Sounddesign & Kompositiono: Janna Berger & Kai Wenas

Kostümdesign: Justyna Gmitrzuk

Dramaturgische Begleitung: Christian Weiß

Konzeptuelle Beratung: René Reith

Künstl. Produktionsleitung: Rixa Knaack-Meyer zur Capellen

Künstl. Assistenz: Tabea Below

Fotos: Tabea Below

0 Kommentare

Neuer Kommentar