Die aktuelle Kritik

systemrhizoma und hanneSCHARNHORST figuren theater: "VERSCHLINGERIN"

Von Pia Soldan

Alba und Hanne Scharnhorst nutzen gekonnt das Material Haar, um als Performance-Künstlerin und Puppenspielerin die autobiografischen Verflechtungen zwischen Mutter, Tochter und Großmutter und deren zerstörerisches Verschlingen auf den Bildschirm zu holen. Denn was sie geschaffen haben, ist ein Stück, das als Film ebenso überzeugt wie der Film als Theater.

Lanugo heißt die Körperbehaarung des Fötus, die er kurz vor der Geburt abstößt. Das Kind braucht diesen „Flaum aus Wollhaaren“, um sich vor dem Mutterleib zu schützen. Das Fruchtwasser würde seine Haut aufweichen, sodass es den Weg durch den beengenden Vaginaltrakt der Mutter nicht überleben würde. Durch den Mund wieder aufgenommen, trägt das Kind tief in sich diesen beständigen Schutz vor der eigenen Mutter, der es auf ewig mit ihr verbindet, an sie bindet.

Ein autobiografisches Rotkäppchen-Projekt

Es ist dieses Phänomen der Natur, das Alba und Hanne Scharnhorst ihrem theaterhaften Filmprojekt oder ihrem digitalen Theaterabend als Motto voranstellen. Und tatsächlich ist im Nachgespräch von Alba Scharnhorst zu erfahren, dass es in ihrer ersten Projektidee „um’s Fressen und Gefressen-Werden gehen“ sollte. Was liegt da näher als eine vollkommen neu fokussierte Rotkäppchen-Adaption – und daraus folgend die Auseinandersetzung mit den Verflechtungen zwischen der Großmutter, die gleichzeitig auch Mutter ist, der Mutter, die als Tochter der Großmutter die Tochter mit der Großmutter verbindet, und ebendieser Tochter selbst? Und was lag für Alba Scharnhorst näher als ihre puppenspielende Mutter Hanne in ihr Netz zu ziehen und mit ihr Rotkäppchens Erzählstränge zu verflechten und die Großmutter in Stimme und Bild ebendort hineinzuweben?

Wolfsmasken

Und dabei niemals zu vergessen, dass es auch den Wolf noch gibt, in Tochter, Mutter und Großmutter selbst, deren wölfische Maskierung sich lediglich in der Farbe unterscheidet und sich als Mädchen mit seinen langen Zöpfen mit den Wolfsmädchen ringsumher verbindet. Nicht mehr zu erkennen ist hier, wer Mutter und wer Tochter ist. So begeben sich die Frauen in ein Spiel zwischen Fiktion und biografischer Realität. Wie kleine Pausen bauen sie Stimmungsbrüche in das Wölfische, legen die Masken ab, arrangieren sie zum Dreiergespann und lachen sich an, mit ihrem echten Haar auf dem Kopf, Mutter und Tochter haben als Alba und Hanne nur einen gemeinsamen Scherz gemacht. Aber natürlich sind auch diese Szenen Teil des Stücks und gehören in all ihrer biografischen Eigenart hinein in die Fiktion einer ambivalenten Mutter-Tochter-Beziehung, die sich im Spiel mit dem Material Haar manifestiert.

Foto: Marf Mabo

Sound

Aus derselben Schüssel verschlingen Mutter und Tochter das Haar in einer Susie-und-Strolch-Manier, doch der Ekel hält fern von der Disney-Idylle. Verbunden von Mund zu Mund, scheinbar von Magen zu Magen durch einen dicken Zopf, ist es fast ein physischer Schmerz, der sich verstärkt durch Janna Bergers Stöhnen, als die Schere die Nabelschnur durchtrennt. Gemeinsam mit Kai Wenas hat Berger den Sound für dieses Theater-Film-Stück entwickelt, der im Wechselspiel mit dem Material ein permanentes Stimmungsschwanken erzeugt. Ihr Atem lässt Mutter und Tochter einander lieben, sich gegenseitig verschlingen, sich ersticken, als sich die Hände fest um das lange Haar der Perücke legen. Einen Augenblick lang entsteht hier gleichzeitig das Bild des kleinen Mädchens, das in all seiner Gefolgsamkeit sein Haar bändigt, um der Mutter zu gefallen. „Bin ich denn schön genug für dich?“ schwebt als sanft gesungene Frage immer wieder durch den Raum, die gemeinsam mit „Wolltest du andere Haare für mich?“ kulminiert zu: „Wolltest du immer ein Kind wie mich?“ Und was passiert mit diesem Kind, wenn es den Wolf trifft, die Realität der Natur erfährt und den nackten Leib schwer atmend windet? Fahren die eigenen Nägel in den Pelz, lang und schwarz lackiert – und dieser Atem – wächst dem Kinde wie der Mutter ein Wolfspelz auf dem Kopf, während die Muskeln des Frauenleibes im Wolfsbeat zucken.

Puppenspiel

So sehr sie sich selbst behaglich windet, so sehr ist es doch natürlicher Instinkt der Mutter, die Tochter zu schützen vor dem Wolf, das lange Haar der Perücke zu streicheln, die auf Hanne Scharnhorsts Rechter mit einem kleinen roten Käppchen obenauf als Puppe vollkommen ausreicht. Zuckend legt sich dieser Haarkopf an die Schulter der Spielerin, die in diesem Moment so aussieht wie sie selbst, jenseits der Fiktion. Als Mutter streichelt die freie Hand das blonde Haar, hält es ein Stückchen von sich fern – ist da nicht doch ein Profil – betrachtet es in mütterlicher Zärtlichkeit.

„Haare sind an und für sich eher etwas Lebloses, Totes“, sagt ein Zuschauer im Nachgespräch des Films, warum habe man sich also für dieses Material entschieden? Für die Puppenspielerin jedoch beschreibt er schlicht ihren Alltag. Denn „in der Wurzel“, so Hanne Scharnhorst, ist das „tote Material“ doch „sehr lebendig“. Den Beweis hat sie bereits zuvor erbracht, mit einer Perücke und einer roten Kappe.

Zurück zum Rotkäppchen

Womöglich tatsächlich von der Großmutter Katharina Böhl genäht, die als Stimme und projiziertes Foto – ist sie es, die plötzlich mit am Tisch sitzt als kleines Mädchen in Schwarz-Weiß – den roten Faden ihrer eigenen, auch jenseits der Fiktion existierenden, Biografie hineinwebt. Modistin war sie, die Kopfbedeckungen entwarf, vielleicht auch eine rote für die Enkelin? Wegen einer Erkrankung entfernte man ihr den Magen. Und es ist der Wolfspelz, der sich windet unter der Last des Haars der Tochter-Mutter, die sich sein Besitzer einverleibte. Als sie noch Kind war – hatte sie ihre Mutter bereits verloren – nahm sie das Gewehr des Vaters, nur zum Spaß. „Bums, fallera, hat’s gemacht“ und „hab‘ als beste geschossen von allen“. Jägerin ist diese Stimme aus dem Off und Tochter, Mutter, Großmutter, deren Rollen sich ineinander und einander verschlingen, ohne jemals physisch, jenseits ihrer Stimme aufzutreten. Denn das übernehmen die Folgegenerationen, doch die Großmutter spielen sie immer mit in ihrem verschlungenen „Müttergeflecht“.

 

Premiere: Donnerstag, 22.04.2021

Weitere Spieltermine: Freitag, 23.04.2021 | Samstag,  24.04.2021 jeweils um 20:00 Uhr

50 Minuten | Online-Stream + 40 Min. Künstler*innengespräch via Zoom

Tickets unter: https://fadenschein.reservix.de/events

 

Ein Film von systemrhizoma und hanneSCHARNHORST figuren theater

Konzept, Künstlerische Leitung, Figurenbau, Bühne, Spiel: Hanne Scharnhorst & Alba Scharnhorst
Kamera, Schnitt, Bildbearbeitung: Marf Mabo
Lichtdesign: Thimo Kortmann
Sounddesign, Komposition: Janna Berger & Kai Wenas Choreografie, dramaturgische Beratung, Produktionsleitung: René Reith & Selina Glockner
Kostüm: Bärbel Rabold
Zusammen mit: Theater Fadenschein, Schaubude Berlin

Gefördert durch: Die Braunschweigische Stiftung, Stiftung Braunschweigischer Kulturbesitz, Richard Borek Stiftung, Rotary Club Braunschweig-Hanse

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