Die aktuelle Kritik

Puppentheater Magdeburg: „Schimmelreiter“

Von Kathrin Singer

In Magdeburg wird Schullektüre neu entdeckt.

Mittlerweile sind sie eine eingeschworene Truppe: Die Puppenspieler Florian Kräuter, Lennart Morgenstern, Leonhard Schubert und Freda Winter studierten gemeinsam und hatten das Glück, 2013 gemeinsam nach Magdeburg engagiert zu werden. Seitdem gibt es diese kreative Keimzelle, in der Spiel und Regie gern wechseln. Dabei aber steht sichtbar die Ensembleleistung, die gemeinsame kreative Arbeit an der Inszenierung im Mittelpunkt. Leonhard Schubert liefert mit dem Storm-Klassiker „Schimmelreiter“ auf diese Weise seine bereits dritte Inszenierung in Magdeburg ab. Der Schülern vermutlich als eher unspannend in Erinnerung gebliebenen Schulbuchlektüre setzt das Magdeburger Puppentheater mit seiner Version der Novelle eine packende neue Lesart entgegen und bietet die Chance, den Lehrplanstoff völlig neu zu entdecken.
Der „Faust der Friesen“, der mathematikbesessenen Eigenbrötler Hauke, der Ende des 18. Jahrhunderts den sozialen Aufstieg vom Kleinknecht zum Deichgrafen schafft lässt gegen die Widerstände der abergläubischen, traditionsverhafteten Dorfgemeinde einen neuen, modernen Deich bauen. Doch er scheitert. Nicht nur die beschränkt-frömmelnden, missgünstigen Dorfbewohner, sondern vor allem seine eigene menschliche Hybris lassen ihn und das gesamte Dorf in der sturmgepeitschten Nordsee versinken.


Leonhard Schubert nutzt die entschlackte Bühnenfassung von Frederik Laubemann für ein bildergewaltiges, emotionales Schauspielertheater, für das er vor allem von seinem perfekt aufeinander abgestimmten Spielerensemble profitiert. Statt der verschachtelten Stormschen Rahmenerzählungen gibt es einen fünfköpfigen personifizierten, Sturm, der durch die Handlung führt, sie antreibt, ins Geschehen eingreift, eine glatzköpfige, uniformierte grün-berockte Naturgewalt eben, die nicht zu bändigen ist und denen einzig Hauke Haien entgegensteht. Denn alle anderen Figuren schälen sich nach und nach aus den Sturmfiguren heraus und wechseln dorthin zurück. Und zuweilen sind Naturgewalt und Dorfgemeinde in ihrer Bedrohlichkeit kaum voneinander zu unterscheiden. Diese wird auch unterstützt von den mantraartig chorisch vorgetragenen Sätzen, die sich durch die gesamte Inszenierung ziehen: „Hauke ist mit dem Gevatter im Bunde. Wenn der Nebel kommt, bist‘ hin. In Husum regnet’s Blut. Das Wasser steigt, das Wasser sinkt, so war es immer, und so wird es immer bleiben.“ Bernhard Range unterstützt die Szenen mit seinen kongenialen Soundcollagen, die von der Händelarie bis zu opulenten filmmusikalischen Klangflächen reichen.


Leonhard Schubert setzt zu Beginn auf kurze, schlaglichtartige, manchmal etwas hektische Sequenzen, die den Werdegang des jungen Hauke schildern. Gespart wird dabei nicht an fantastischen Bildern wie den Begegnungen des Kindes Hauke, einer realistisch wirkenden rotschopfigen Puppe im gelben Friesennerz, mit dem leibhaftigen, mit spaciger Neonbrille versehenen Euklid auf dem Dachboden, dem Quell der Mathematikbegeisterung Haukes.
Später werden die Bilder eindringlicher, berührender, etwa die Hochzeitsszene Haukes mit Elke, der Deichgrafentochter, oder später ihre verzweifelten Versuche, Hauke von seinem ehrgeizigen Vorhaben abzuhalten, einer der Höhepunkte im eindrücklichen Spiel von Freda Winter. Hier wird das Unheil schon vorweggenommen.
Richard Barborka, Lennart Morgenstern und Florian Kräuter schlüpfen reihum in die Rolle des Visionärs Hauke. Jeder verleiht der Figur eine eindrückliche eigene Farbe: vom sozial eher scheuen, aber aufstiegswilligen Jungen über den ehrgeizigen, kämpferischen Deichgrafen, dessen Arm mit einem Schimmelkopf verwachsen scheint, bis hin zum bereits schon kranken Alten. Stets aber ohne Empathie für Mitmenschen, starr vor Visionen, unfähig, Menschen zu begeistern und damit letztlich verurteilt zum Scheitern. Ihnen gegenüber das Figurenensemble scheinbar direkt aus dem Schlick: die mülltütengewandete Trin Jans, von Jana Weichelt geführt als altes, keifsüchtiges Weib. Oder Haukes Widersacher Ole Peters, der, ebenfalls aus Strandgut zusammengebaut, dem Spieler Lennart Morgenstern direkt aus der weiten Wathose wächst.
Ausstatter Jonathan Gentilhomme, mit dem Schubert bei seinen bisherigen Arbeiten zusammengearbeitet hat, hat eine postapokalyptische Szenerie entworfen mit einem rätselhaften, rostbedeckten Wrack und grobem Sand und Spielzeugschimmel, ein düsterer, vergessener Ort, der sowohl über als auch unter Wasser liegen könnte.

„Wer Visionen hat, sollte zum Arzt gehen“ – das berühmte pampige Bonmot Helmut Schmidts aus den 1980er Jahren, das bis heute immer wieder zitiert wird, kommt unwillkürlich in den Sinn beim Nachdenken darüber, wie Gesellschaft heute mit Visionären umgeht und welchen Anteil sie zuweilen selbst daran haben.

Premiere: 09.05.2018

REGIE Leonhard Schubert AUSSTATTUNG Jonathan Gentilhomme MUSIK Bernhard Range Dramaturgie Stephanie Preuß SPIEL Jana Weichelt, Freda Winter, Richard Barborka, Florian Kräuter, Lennart Morgenstern

Foto: Viktoria Kühne

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