FUNDUS THEATER: Wir nennen es Forschung.

Von Falk Schreiber

Jubiläum in Hamburg: Seit 20 Jahren denkt man am Fundus Theater die Konventionen des Kindertheaters neu – auf Basis von Forschung und Objekttheater, allerdings ohne Paternalismus und ohne Trennung zwischen Kindern und Erwachsenen.

„Was genau ist denn Sand?“, fragt Sibylle Peters, und das junge Publikum antwortet überraschend schnell: „Das sind kleine Körner“, „Glitzekleine Steine“, „Man kann damit graben und was bauen“. Rund 30 Kinder haben sich an diesem Vormittag in den Räumen des Hamburger Fundus Theaters zur immersiven Performance „Die Experimental-Sandkiste“ versammelt, Kita-Gruppen im Vorschulalter, die schauen, wie hier Infotainment, lebenspraktischer Unterricht und Materialtheater Hand in Hand gehen. Und Peters, Hanno Krieg und Waleba Mtaki, die … Ja, was sind sie eigentlich? Performer*innen? Lehrkräfte? Begleitung beim Erkenntnisgewinn? Man merkt: Die Rollen geraten hier durcheinander. Und dieses Durcheinander ist dann vielleicht auch das, was die Arbeit des Fundus Theaters so besonders macht.

Sibylle Peters (c) Hanno Krieg

Das Fundus Theater ist ein alter Hase in der Hamburger Kindertheaterszene. Gegründet wurde die Bühne 1980 von Sylvia Deinert und Tine Krieg, 1993 wurde ein erstes eigenes Quartier bezogen, seit 1997 residierten sie in einem ehemaligen Fabrikgebäude im Stadtviertel Eilbek, leider nur eingeschränkt barrierefrei. 2022 endlich ging es in vom Architekturbüro Mevius & Mörker neugebaute, speziell auf die Bedürfnisse eines Kindertheaters zugeschnittene Räume im Sport- und Kulturzentrum Hamm nahe der U-Bahn-Station Burgstraße, am programmatisch benannten „Platz der Kinderrechte“. Die ursprünglichen Gründerinnen sind immer noch an Bord, die Leitung ist allerdings erweitert um Geschäftsführerin Gundula Hölty und um Sibylle Peters, die den Bereich „Forschung“ verantwortet – insgesamt arbeiten hier rund 15 Leute, unter anderem auch im Bundesfreiwilligendienst und als Freiwilliges Soziales Jahr. Während das um das Haus gesponnene Netzwerk unüberschaubar ist und mittlerweile bis ins Ausland reicht: Mit dem Spiel „Playing up!“ etwa gastiert das Fundus Theater rund um den Globus.

Der Forschungsbereich ist es, was das Fundus Theater neben seiner Funktion als Spielort für die freie Kindertheaterszene ausmacht: Ursprünglich als eigene Sparte geplant, durchdringt er mittlerweile viele Aktionen des Hauses, das sich heute selbstbewusst „Forschungstheater/Fundus Theater“ nennt – beispielsweise mit der oben beschriebenen „Experimental-Sandkiste“. Dass die Abgrenzung zwischen den Abteilungen nicht ganz einfach ist, beweist Hamburgs Kultursenator Carston Brosda, der bei den Jubiläumsfeierlichkeiten zu „20 Jahren Forschungstheater“ mehrfach dem 43 Jahre alten Fundus Theater zum Zwanzigjährigen gratuliert.

20 J. Forschungstheater: Kultursenator Carsten Brosda und Sibylle Peters (c) Ellen Coenders

Das Selbstverständnis des Hauses sitzt dabei ästhetisch ein wenig zwischen den Stühlen: „Wir kommen ursprünglich aus dem Figuren- und Objekttheater“, meint Peters, „sind aber seit über 20 Jahren auch Vorreiter*innen von partizipativen Formen, interaktivem Theater, Performancekunst im Theater.“ Tatsächlich ist das Fundus Theater eine Bühne, in der die Genres verschwimmen, in dem unterschiedliche Zugriffe aufs Kindertheater amalgamiert werden – unter dem Prinzip der Postdramatik. Wahrscheinlich ist das Fundus Theater eines der weltweit ersten Häuser, die postdramatisches Kindertheater ausprobiert hatten – auf eine gewisse Weise sind Hölty und Peters Pionierinnen. „Ich glaube schon, dass wir da ein Alleinstellungsmerkmal haben“, meint Hölty. „Auch weil wir bundesweit und international tätig sind.“

Fundus Theater | Forschungstheater (c) Margaux Weiß

„Wir trennen da eigentlich nicht mehr“, beschreibt Peters das Zusammenspiel. „Wir sind das Fundus Theater, das ein Forschungstheater ist.“ Allerdings gibt es unterschiedliche Entstehungsgeschichten – das Fundus Theater ist wie gesagt 43 Jahre alt, das Forschungstheater feiert gerade seinen 20. Geburtstag. „Das sind unterschiedliche Zeiten, unterschiedliche künstlerische Kontexte, auch wenn das Forschungstheater dem Fundus Theater viel verdankt und in ihm überhaupt erst wachsen konnte.“ Peters selbst hatte auch schon vor Gründung des Forschungstheaters viel am Haus gearbeitet und dabei ihre eigene künstlerische Vision entwickelt: „Einmal ist das ein ganz bestimmtes Verständnis von Kindertheater, bei dem es darum geht, Kinder fernab von allem Paternalismus als Publikum ernstzunehmen, das selbst tolle Qualitäten in die Performance mit einbringt.“ Außerdem sei zentral, dass das Kinderpublikum gar nicht als spezifisches Publikum wahrgenommen werde – so eine Sicht ist mittlerweile Standard, war in den Neunzigern aber noch ganz neu. Die Unterscheidung zwischen Kindern und Erwachsenen kann man auch als binäres System sehen, und da wird die Forschungsarbeit am Fundus Theater plötzlich zum politischen Akt, zur Hierarchiekritik. Immerhin: „Alles, was binär ist, muss gehackt werden!“, meint Dramaturg Christopher Weymann scherzhaft. Und dieses Hacking hat politische Folgen: „Wir nennen es Forschung, aber manchmal ist es auch eine ganz kleine Revolution“, beschreibt Lois Keidan von der Londoner Live Art Development Agency bei einer Zoom-Diskussion während der Jubiläumsfeierlichkeiten des Fundus Theaters den Ansatz.

Platz der Kinderrechte (c) Lina Schmidt

Wobei diese Ablehnung des binären Systems Kinder-Erwachsene im Umkehrschluss heißt: Auch Erwachsene fühlen sich im Fundus Theater angesprochen, haben nicht das Gefühl, hier würden Themen verhandelt, die nicht ihre sind. Allerdings sind diese Themen nicht ohne: Postkolonialismus, Urbanistik, Gender-Science überfordern schon manchen Volljährigen, wie muss das erst mit Kindern sein? Antwort: machbar. Dem Theater hilft die Begeisterung von Kindern, Unbekanntes zu entdecken, und Peters, die neben ihrer Tätigkeit am Theater auch im akademischen Forschungsbereich aktiv ist, kitzelt diesen Entdeckergeist raus. Man muss sich eben drauf einlassen. So ähnlich drückt es auch Dramaturgin Hannah Kowalski aus, wenn sie die typische Kinderfrage „Warum ist das so?“ mit einem „Wie wäre es denn, wenn es anders wäre?“ kontert. Das kindliche „Warum?“ wird hier zur Basis eines politischen Veränderungsimpulses.

Dass das ein ganz anderes Verständnis von Kindertheater ist als „Des Kaisers neue Kleider“ als Puppenspiel – klar. „Die theaterpädagogische Zeitschiene wird bei uns umgedreht“, charakterisiert Peters ihr Verhältnis zum traditionellen Kindertheater, in dem zunächst ein Stück geschaut wird, um im Anschluss mittels Spielen und Diskussionen reflektiert zu werden. Im Fundus Theater dagegen wird zu Beginn gemeinsam geforscht, und manchmal entsteht daraus etwas, das man im weitesten Sinne als Theaterstück bezeichnen kann. Manchmal auch nicht.

"Die Versammlung der Dinge" (c) Margaux Weiß

Einem Teil des Publikums geht das zu weit: Im Internet finden sich einige Bewertungen, die sich mehr Traditionelles wünschen, weniger Postdramatik. Wobei das nicht ganz fair ist: Das Programm des Hauses mag ungewöhnlich aussehen, tatsächlich aber gibt es auch hier einen klassischen Theaterbegriff, der über Objekte und Material läuft. Im Grunde ist das meiste, was hier passiert, wenn schon kein Objekttheater, dann doch Materialtheater. „Was im Forschungstheater ein ganz wichtiger Strang ist, ist, dass wir uns immer mit Materialien als Akteur*innen auseinandersetzen“, meint Peters. Materialien im sehr weiten Sinne: „In unseren Stücken tauchen Flüssigkeiten auf, die sich anders verhalten, als sie sollten, Thema war Licht, Thema war Zucker.“ Und aktuell steht Sand im Zentrum. „Es ging uns immer um den gleichen Impuls, den man auch im Objekttheater hat: die Agency des Materials zu sehen, auch im Hinblick darauf, was dabei an Forschung passiert.“ Der Zucker treibt den Kolonialismus an, der Sand den Städtebau des 20. Jahrhunderts – wenn hier das unbelebte Material zum Akteur wird, dann ist das nicht weit weg vom Figurentheater. Und damit an den Ursprüngen des Fundus Theaters: „Das Fundus Theater hat der Forschung mit Ansätzen aus dem Objekttheater ganz wichtige Aspekte hinzugefügt“, so Peters: „Was macht ein Ding zu einem Wunder? Wann hat das Eigenleben von Objekten eine geisterhafte Qualität?“, fragt sie mit Blick auf Stücke wie „Anleitung zur Wundersuche“ oder „Die Spukversicherung“.

Immer wieder standen während der vergangenen Jahre Materialien im Zentrum von Stücken am Fundus Theater: „Crashtest Schule“, wo das Publikum aufgefordert wurde, zu prüfen, inwiefern Gegenstände aus dem Schulkontext entgegen ihrer eigentlichen Bestimmung verwendet werden können. „Da Gefahr“, wo „50 gefährliche Dinge, die Kinder unbedingt tun sollten“ ausprobiert werden. Und „Kaputt. Akademie der Zerstörung“, wo das kindliche Grundbedürfnis des Kaputtmachens ernst genommen wird, und das Material fachgerecht zerlegt wird. Das ist das Fundus Theater eben auch: eine sinnliche Erfahrung, trotz aller politischen und intellektuellen Anforderungen. „Es geht darum, Dinge zu begreifen, nicht abstrakt, sondern konkret anfühl- und anfassbar“, beschreibt Kultursenator Brosda den Ansatz, und auch wenn der Politiker die Geburtstage der Theaterabteilungen durcheinanderbringt – hier hat er etwas verstanden.