Vorsicht im Schlaraffenland

von Dorothea Marcus

Mareike Marx leitet seit 2022 das Kölner Hänneschen-Theater – und führt es in sein 222. Jubiläum.

18. Juli 2024

Rosa leuchtet der Himmel, zartgelb der Heuhaufen, pastellfarbene Schmetterlinge flattern vorwitzig über die Bühne. Fröhlich tollen Hänneschen und Bärbelchen vor dem Bauernhof herum und spielen Verstecken, während sich in dunstiger Ferne zwei Domspitzen emporstrecken. Die Bühnenbilder des Kölner Hänneschen-Puppentheaters sind ein Erlebnis für sich, nostalgische Kinderträume werden hier geweckt, bis ins letzte liebevolle Detail sind die Landschaften gestaltet und erinnern an ein idyllisches Kölner Umland, das es so vielleicht nie gegeben hat – aber beim traditionellen Puppentheater konsequent „Knollendorf“ heißt. Kein Wunder, dass heute fast ebenso viele Großeltern wie Kinder in Mareike Marx‘ erster Inszenierung als Intendantin „Hännesche em Schlaraffeland“ auf den roten Sitzbänken eingefunden haben. Hier wird bei jedem Szenenwechsel gejubelt, und natürlich mitgesungen: in den Pausen spielen zwei Musiker kölsches Karnevals-Liedgut. Mareike Marx, 1984 geboren, ist seit zwei Jahren die Intendantin des Hänneschen-Theaters. Heute sitzt sie selbst im Publikum, um mal zu gucken, was ihre Inszenierung so macht – zwischendurch muss sie einen versehentlich ausgelösten Feueralarm moderieren. In der weit verzweigten Freien Szene Kölns war sie vorher eine feste Größe: ganz allein hat die ausgebildete Schauspielerin 2011 den kleinen Kellerraum des Metropol-Theaters in der Kölner Südstadt zu einem erfolgreichen und nahezu ungeförderten Kindertheater aufgebaut. Vorwiegend Märchenbearbeitungen werden da gespielt, allerdings meist ohne Puppen, fantasievoll, bunt, mit wenigen Mitteln brachte sie Kinderaugen zum Strahlen – „Ich möchte sanft die Patina von Märchen entfernen, ohne die Moral und Romantik darin zu zerstören“, sagt sie. Im Metropol-Theater war sie mit 26 Jahren als „jüngste Intendantin Deutschlands“ und hat ihren eigenen, verspielten, fantasievollen Inszenierungsstil herausgearbeitet, den sie so beschreibt: „Relativ traditionell und wenig experimentell. Ich bin ein Fan von Geschichten, denen alle folgen können. Im besten Fall bringe ich Kinder zum Lachen und Eltern zum Weinen.“ In der Ausschreibung der Hänneschen-Leitung hat sie sich als kölsches Mädchen, mit Leitungserfahrung, „direkt wiedererkannt“ – auch weil sie als Kind so oft hier im Theater war. Heute hat Mareike Marx selbst einen kleinen Sohn. Kölsch sprechen zu können ist tatsächlich eine der wichtigsten Voraussetzungen in einem Theater, in dem alle Stücke in Mundart gespielt werden. Das Metropol-Theater betreibt sie auch noch weiter, aber eher nebenbei.

Mareike Marx © Julia Glasner

Mareike Marx erster Inszenierung für das traditionsreiche Hänneschen-Theater – 222jähriges Jubiläum feiert es gerade - merkt man ihre Vorliebe für Märchenhaftes deutlich an. Hänneschen und Bärbelchen haben bei den Großeltern nichts zu essen, nur karge Boullion zum Abendessen – Hauptsache, alle haben sich trotzdem lieb. Und doch hat der unheimliche Kutscher, der auf den Hof fährt und vom Schlaraffenland erzählt, beim Hänneschen leichtes Spiel: Kamelle und Kuchen, die auf Bäumen wachsen, sind einfach zu verlockend. Heimlich verscherbelt er die Ziege, um an die Wegbeschreibung zu kommen, und bald finden sich die Kinder – natürlich sind auch der gutmütige Köbeschen Schmitz und das kratzbürstige Röschen dabei - im üppigen grünen Wald wieder, mit Rehen, Wildschweinen und Fliegenpilzen. Doch das ist natürlich nichts gegen das magische Schlaraffenland, dritte Dimension, in die man gelangt, in dem man Arschbombe durch einen Brunnen macht. Das Bühnenbild von Markus Henn ist erneut ein Traum: Mandelecken, rosa Torten, fliegende Eiswaffeln und tanzende Fruchtzwerge, alles sieht zum Anbeißen aus. Doch die beiden wunderschönen Feen, die hier regieren, sind am Ende ziemlich böse, verführen die Kinder mit Zerstreuung und Zuckerdrogen, auf dass sie immer dableiben – „für mich stehen sie für die Auswirkungen von Social Media und Internet“, sagt Mareike Marx. Fast wäre Hänneschen drauf reingefallen. Die Puppe mit der charakteristischen rot-weiß-gestreiften Mütze ist hier definitiv nicht der Held. Am Ende ist Bärbelchen diejenige, die clever genug ist, um alle Kinder zu retten. Früher war die blondbezopfte Puppe im Hänneschen-Theater eher Stichwortgeberin. Für Mareike Marx ist wichtig, die weiblichen Figuren divers und stark zu machen und der Geschichte einen leicht feministischen Klang zu geben. Auch im Abendprogramm ist es ihr wichtig, die Stücke sanft politisch zu positionieren: es ging hier schon um den Ausverkauf des Knollendorfer Wasserwerks. In der legendären – und wochenlang vorher ausverkauften Puppen-Karnevalssitzung – kam in diesem Jahr eine Rammstein-Parodie als „Zahnstein“ mit einer riesigen Brust auf die Bühne. Erstmals wurde die Sitzung gemeinschaftlich von einem Autorenteam geschrieben, war das Dreigestirn weiblich, Alu-Mützen schützten ironisch gegen rechte Hetze unter dem Motto „Verhütung statt Verhutung“. Geifernd solidarisierte sich die Figur Speimanes auf dem Traktor mit den Bauernprotesten: „Es ist uns eine Ähre“.

Puppensitzung 2024 "Wat e Thiater": Dreigestirn © Julia Glasner

„Ich will am Hänneschen-Theater keine Revolution, sondern eher eine sanfte Reformation“, sagt Mareike Marx: „Ich finde es manchmal etwas schwierig als relativ junge Frau in einem Saal mit dem üblichen Karnevals-Herrenwitzen konfrontiert zu sein – und gehe spielerisch dagegen an.“ Was ihrer Liebe zu Märchenprinzessinnen keinen Abbruch tut: „Für mich sind es resiliente Figuren: wie schafft es ein Aschenputtel, in sich keine Rache aufkommen zu lassen, gut und freundlich zu bleiben?“ Auch im Hänneschen-Theater spürt man, wie gerne Mareike Marx mit ihren eigenen Kinder-Träumen und Fantasien arbeitet.

222 Jahre feiert das Hänneschen-Theater im Jahr 2024, gegründet wurde es 1802 vom in Bonn geborenen Schneider Johann Christoph Winters als Puppen-Krippenspiele für Kinder in der Adventszeit. Er hatte so großen Erfolg, dass die Puppen ab 1823 im Karnevalszug vertreten waren. Weil die Puppenspielerdynastie 1919 ausstarb, gab es eine Zwangspause, bis Konrad Adenauer und Carl Niessen 1926 die Wiedereröffnung organisierten – in der Sternengasse 10, nur wenige Hundert Meter vom heutigen Standort am Eisenmarkt in der Kölner Altstadt entfernt. Hier ist es seit 1938 beheimatet, in der Nazi-Zeit wurden hier auch Puppenspiele mit rassistisch-antisemitischem Inhalt aufgeführt – denn das Theater war schon immer ein Aushängeschild der Stadt. Zwölf Figuren kehren in den Stücken immer wieder und haben typische Eigenschaften: Tünnes ist gutmütig und einfältig, der Typ Umland. Schäl ist der fiese Städter. Speimanes ist eine Art Hofnarr, der Polizeibeamte Schnäuzerkowski versucht, für Ordnung zu sorgen.

Das Puppenensemble: (v.l.n.r.) Schnäuzerkowski, Tünnes, Röschen, Bestemo, Bärbelchen, Hänneschen, Speimanes, Schäl (dahinter), Zänkmanns Kätt, Besteva, Köbeschen, Mählwurms Pitter © Hänneschen-Theater

Beliebt ist das Kölner Puppentheater wie eh und je: „Wir sind nahezu immer restlos ausverkauft“, sagt Mareike Marx. Die Corona-Jahre sind mehr als aufgeholt. Auch Nachwuchssorgen bei den Puppenspielern kennt sie keine. Gerade hat Mareike Marx wieder vier neue Spieler fest angestellt. Sie brauchen hier nicht unbedingt eine Puppenspielerausbildung, einer der Neuen ist Sozialarbeiter, eine andere Musical-Darstellerin – nur kölsch sprechen sollten sie, und natürlich die Puppen zum Leben erwecken. Die Fluktuation ist gering, manche sind seit Jahrzehnten dabei. Vielleicht, weil am Hänneschen-Theater alle alles machen dürfen: schminken, mitschreiben, Requisiten gestalten.

Für die Zukunft des Theaters hat Mareike Marx viele Pläne, hat die Theaterpädagogik ausgebaut, jeden Donnerstag nach der Schulvorstellung findet ein Publikumsgespräch statt. Sie will mit dem Theater in die Stadt gehen, plant eine Kooperation mit dem Schokoladenmuseum. Mit sechs Streichern des Gürzenich-Orchesters inszeniert sie gerade Tschaikowskys „Dornröschen“, gerade wird eine „Wanderbritz“, also Bühnenbalustrade, gebaut, um mit den Stockpuppen auch woanders zu spielen, mit Chorweiler ist bereits eine Partnerschaft geschlossen. „Wir wollen den Kindern die alte Seele und das Handwerk, die Magie und das Potential der Puppen zeigen und ich merke jedes Mal, wie sie das geradezu aufsaugen“, sagt sie. Man glaubt es ihr sofort.


Website des Hänneschen-Theaters

Anm. d. Red.: Zum Zeitpunkt des Gesprächs von Dorothea Marcus mit Mareike Marx war die Kooperation mit dem Kölner Schokoladenmuseum in Planung, mittlerweile wurde sie umgesetzt: Das Stück "Ne Draum us Schokolad" ist eine Theaterwanderung mit Bärbelchen und einem windigen Museumsführer durch die Ausstellung und die Schokoladenfabrik. (Infos und Termine)