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Das Puppentheater Magdeburg: Ausprobieren ausdrücklich erwünscht

von Kathrin Singer

Aus dem ersten speziell für ein Puppentheater errichteten Zweckbau im Magdeburger Stadtteil Buckau ist längst ein kleines Imperium geworden mit festem Ensemble, der von Touristen und Magdeburgern gleichermaßen geliebten größten Figurenspielsammlung Mitteldeutschlands in einer benachbarten Gründerzeitvilla sowie aufwändigen, überregional beachteten Figurentheaterfestivals mit internationaler Beteiligung.

Die erste Vorstellung, den „gestiefelten Kater“, spielte das damals nur vierköpfige Ensemble des Magdeburger Puppentheaters im Jahr 1958. Sechzig Jahre später steht das grimmsche Märchen als Weihnachtsproduktion wieder auf dem Spielplan.

Fast hätte es das Magdeburger Puppentheater in seiner heutigen Form nicht mehr gegeben. Wie in vielen ostdeutschen Städten nach der Wende übernahm auch in Magdeburg Personal aus dem Westen die Leitung der Kulturverwaltung. Und die konnte mit dem spezifisch ostdeutschen Phänomen eines kommunalen Puppentheaters reinweg nichts anfangen. Mit dem Handwagen voller Puppen durch die Schulen ziehen - das erfülle doch denselben Zweck, so die damalige lapidare Einsparungsempfehlung. Eine starke Bürgerinitiative, flankiert von engagierten Magdeburger Kulturpolitikern sorgte dafür, dass die Schließungspläne ziemlich schnell vom Tisch kamen.

Heute - dreißig Jahre später - ist das Magdeburger Puppentheater tatsächlich das einzige eigenständige kommunale Puppentheater Deutschlands. Eines von 8 verbliebenen der einst 17 staatlich subventionierten Puppentheatern der DDR.


Dass das Magdeburger Haus so lange durchgehalten hat, ist auch dem Standvermögen der Theaterleitung zu verdanken. Seit 1985 arbeitet Michael Kempchen am Haus, zunächst als Verwaltungsdirektor, ab 1990 als Intendant. Frank Bernhardt, der heutige künstlerische Leiter, fand über Umwege - zunächst ausgebildet im DDR-spezifischen Studiengang Regie für Unterhaltungskunst und später erprobt in Werbung und Marketing - 1993 ebenfalls ans Haus. Die jahrzehntelange Verantwortung hat bei dem Duo aber nie dazu geführt, sich bequem einzurichten, staubig zu werden, sich zu wiederholen. Im Gegenteil: Im Gespräch mit Frank Bernhardt blitzt hinter jedem seiner Worte der Drang hervor, sich und das Theater immer wieder neu zu finden, in Frage zu stellen, wach zu bleiben, neue Ausdrucksformen zu entdecken, das Publikum für neue Formensprachen zu öffnen. Das ist auch eine der zentralen Herausforderungen, wenn nicht gar der entscheidende Spagat, den es zu bewältigen gilt: ein kommunal finanziertes Haus zu führen, das „ökonomischen Kennziffern“ genügen muss, von dem „Quote“ erwartet wird, andererseits aber Freiräume braucht, sich ästhetisch neu zu erfinden, Publikum herauszufordern und zu begeistern. Für dieses Anliegen, das auch die Kollegen in den anderen ostdeutschen Städten umtreibt, hat Frank Bernhardt das Projekt „Aufbruch“ ins Leben gerufen – und damit einen einmaligen Branchentreff. 2016 kamen Vertreter ostdeutscher Ensemblepuppentheater in Magdeburg erstmals zu einer Werkschau zusammen, aber auch zur Möglichkeit des Austausches über Visionen und Potentiale des Genres. Ein „Mutprojekt“ nennt Frank Bernhardt diesen über vier Jahre währenden Prozess der Positionsbestimmung eines Genres, das selbst in der Fachpresse erstaunlicherweise kaum präsent ist. 2018 wurde der Austausch fortgesetzt mit Laboratorien und einer Masterclass für Puppentheaterregie, einem Beruf, für den es deutschlandweit keine spezifische Ausbildung gibt. Für das zweiteilige Projekt „Aufbruch“, aber auch die Gesamtleistung des Ensembles wurde das Puppentheater Magdeburg aktuell 2019 mit dem Theaterpreis des Bundes gewürdigt, der übrigens erstmals einem Puppentheater verliehen wurde. In der Tat ein Mut machendes Zeichen für die gesamtdeutsche Theaterlandschaft!

In puncto Regienachwuchs bei mangelnden Ausbildungsangeboten kommt auch wieder der lange Atem des Leitungsteams ins Spiel: Spielerinnen und Spieler haben in Magdeburg die Chance, sich zu entwickeln. Ausprobieren ausdrücklich erwünscht, nicht nur auf der Bühne, sondern vor allem auch im Regiefach. Dass der Rückgriff auf eigene Kräfte nicht nur eine Lösung aus der Not ist, belegen die eindrucksvollen Ergebnisse: Leonhard Schubert, der schon mehrere Inszenierungen gemeinsam mit dem Bühnenbilder und bildenden Künstler Jonathan Gentilhomme vorgelegt hat, begeisterte mit einem bildergewaltigen „Schimmelreiter“, bei der er von dem perfekt eingespielten Ensemble profitiert. Florian Kräuter nahm sich die deutscheste aller Heldensagen vor und präsentierte einen herrlich anarchischen „Siegfried“, während Claudia Luise Bose mit ihrem behutsamen Objekttheaterstück „Niemand heißt Elise“ eindringliche Bilder auf die Bühne brachte.

Unter den acht Ensemblemitgliedern sind drei, die ihre Anfänge in Magdeburg nahmen: Praktikanten oder FSJler, die nach ihrem Puppenspielstudium genau hierhin wieder zurückwollten. Phänomene, die Frank Bernhardt bescheiden mit kontinuierlicher Talentförderung begründet. Als Ergebnis einer Idee von Ensemble, das nicht als homogene Masse gesehen wird, die einen Spielbetrieb aufrecht erhält, sondern jeden Künstler individuell sichtbar machen will.

Was ästhetische Anregungen betrifft, befinden sich die Puppenspieler und Mitarbeiter in Magdeburg in einer beneidenswerten Lage: Alle zwei Jahre holt Frank Bernhardt für das Internationale Figurentheaterfestival BLICKWECHSEL die aufregendsten aktuellen Inszenierungen aus aller Welt nach Magdeburg, bei denen oft der genreübergreifende Blick in Richtung bildende Kunst, Tanztheater, Schauspiel, Performancekunst und zunehmend auch virtueller Welten eine Rolle spielt. Mehr als dreißig Produktionen im Stundentakt funktionieren hier nicht nur als Szenetreff und Austauschplattform, sondern lassen lokales und internationales Theaterpublikum aller Altersstufen in Magdeburg an in der ganzen Stadt verteilten Spielorten an den aktuellsten Figurentheaterentwicklungen teilhaben.

Auf zwei Publikationen kann das Puppentheater bereits zurückblicken: „Kasper und Konsorten“ über die Kulturgeschichte der Theaterpuppe im mitteldeutschen Raum sowie „Ich bin nicht lustig“ zum 50-jährigen Bestehen des Puppentheaters. Eine dritte über das Puppentheater Magdeburg seit 1989 ist in Arbeit und soll zur Spielzeit 2020/21 erscheinen. Man darf gespannt sein.

 

Fotos: Jesko Döring, Viktoria Kühne

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