Theater Koblenz: "Die große Wörterfabrik"
„Immer lauter und mächtiger“ wird die große Wörterfabrik, „die Kräne fahren permanent auf und ab“ und ein geschminkter Mund, an die Rückwand der Bühne projiziert, beschwört ebenso gendernd wie aggressiv die Mitarbeiter*innen zur Produktivität. Die Belohnung für die große Effizienz ist gleichzeitig Drohung, wenn der versprochene zusätzliche Festtag im Sommer der Streichung anheimgestellt wird, sobald die Produktionszahlen fallen.
Ja, so war es damals im Land der großen Wörterfabrik, wie Marie ihrer Enkelin Fiona berichtet. Und „weil wir nicht immer sagen konnten, was wir wollten, sagen wir jetzt alles zweimal.“ Wir? Das sind die Omas Marie, in doppelter Besetzung durch Svea Schiedung und Anastasiia Starodubova, die mit identischen Frisuren in ihrem Spiel so gekonnt ineinander übergehen, dass ein gelegentlicher Wechsel zugunsten einer weiteren Figur beinahe unbemerkt bleibt. Zu zweit treten die Omas als Geschichtenerzählerinnen der Klappmaul-Enkelin gegenüber, deren Familienähnlichkeit mit der Großmutter farblich durchaus erkennbar ist, aber durch die schrill glänzende Jacke und den perlmutternen Pagenschnitt auf ein neues Jahrhundert heruntergebrochen wird. Aus dieser „Tik-Tok-tauglichen“ Zeit heraus „managt“ die Kleine ihre Oma, indem sie die Rahmenhandlung des Dialogs zwischen Großmutter und Enkelin nutzt, um der Geschichte der alten Dame gelegentlich Alternativ-Szenen hinzuzufügen.
Anastasiia Starodubova, Fiona, Svea Schiedung
Wir befinden uns im Land der großen Wörterfabrik. „In diesem sonderbaren Land muss man die Wörter kaufen und schlucken, um sie aussprechen zu können.“ Folglich spricht man nicht viel in diesem Land aus Großmutters Jugend. Denn den meisten Menschen fehlt das Geld. Man arbeitet in der Wörterfabrik, produziert, was man sich selbst nicht leisten kann.
Stattdessen sind es Oskar und seine Eltern, die mit Wörter-Cocktails am Wörter-Pool sitzen und mit Wörtern nur so um sich werfen. Ganz kurz erahnen die Eltern, deren Rollen für diese eine Szene die beiden Schauspielerinnen einnehmen, dass auch sie in Abhängigkeit von der großen Fabrik leben. Was wäre zum Beispiel, wenn der projizierte Mund im nächsten Quartal das Wort „Tabletten“ aus der Produktion nehmen würde? „Wenn dich niemand hört, kann dir auch keiner helfen“, verfolgt Oskars Vater den Gedanken. Aber die Mutter nimmt es leicht: „Zum Glück ist das nicht die Realität, zumindest nicht unsere!“
Für Paul aber ist es Alltag, in Abfalleimern nach weggeworfenen Wörtern zu suchen. Genüsslich schluckt er die Zettel, die in seinen durchsichtigen Puppenkorpus fallen, und lässt sie ebenso genüsslich erklingen: „Hundekacke“, „Hasenpipi“. Plötzlich biegt Oskar um die Ecke. In seinem ebenfalls durchsichtigen Kugelbauch bringt er ausreichend Wörter mit, um Paul niederzumachen und sich über dessen Wörterarmut zu amüsieren. Aber Paul hat nur noch ein Wort übrig, dass einer Gegenwehr wohl kaum dienen kann: „Gänseblümchen“.
Hier hakt Fiona aus der Rahmenhandlung heraus ein und fordert die Großmutter auf, mit der Szene noch einmal von vorn zu beginnen. Und nun schluckt Paul die Wörter, die er aus dem Abfalleimer zieht, spricht sie aber nicht aus. Auf diese Weise hat er Oskar mit „Hundekacke“ und „Hasenpipi“ etwas entgegenzusetzen.
Svea Schiedung, Paul, Marie, Anastasiia Starodubova
So auch, als die beiden Jungen ihre gemeinsame Angebetete umgarnen. Es ist Oma Marie, damals ein junges Mädchen, das im Antiquariat seiner Eltern arbeitet, wo es alte Wörter wie „Pardon“ oder „pudelnärrisch“ zu kaufen gibt. Wortreich gesteht Oskar Marie eines Tages seine Liebe und bemerkt für sich: „Dystopisch ist das Mädchen, einfach dystopisch!“ Ob die jungen Zuschauenden sich unter Dystopie etwas vorstellen können, spielt eine untergeordnete Rolle. Schließlich weiß auch Oskar, der dieses schöne Wort auf einem Zettel in seinem durchsichtigen Kugelbauch mit sich herumträgt, nicht, was es bedeutet. Doch er weiß, dass es teuer war und was teuer ist, ist wohl wert, Teil einer Liebeserklärung zu werden. „Diese Liebeserklärung muss ein Vermögen gekostet haben, aber Marie wollte viel lieber hören, was Paul zu sagen hatte.“
Auf semantischer Ebene ist das nicht allzu viel. Zufällig konnte Paul mit seinem Schmetterlingsnetz drei der Wörter fangen, die manchmal durch die Luft fliegen im Land der großen Wörterfabrik. Doch im richtigen Ton gesagt entfalten auch „Kirsche“, „Staub“ und „Stuhl“ ihre Wirkung und die starren Puppenhändchen verhaken sich ineinander.
Dabei stehen die kleinen Puppen in einer der vielen Guckkastenbühnchen, die im Theatersaal aufgebaut sind. Direkt zu Anfang macht Fiona klar: Es handelt sich bei diesen Aufbauten, die Schränken und Kommoden doch täuschend ähnlichsehen, nicht um Schränke, sondern um ein ganzes Land. Je nachdem, an welchem Schauplatz das Geschehen gerade stattfindet, öffnet sich eine Tür, während sich anderswo eine Schublade schließt. Da gibt es die Stelle am Wörterautomaten, wo Paul Marie mit seinen drei ungewöhnlichen Wörtern seine Liebe gesteht. Auf der entgegengesetzten Seite der Bühne steht das Antiquariat, das auf einer Tafel die neuesten Errungenschaften anpreist. Und dazwischen gibt es den Schlussverkauf, in dem zweidimensionale Schattenwesen mal in ihrer wahren Kleinheit, mal im Schattenspiel vielfach vergrößert zu ergattern versuchen, was an Wörtern noch zu haben ist. Doch was lässt sich dann anfangen mit „Bauchredner“ oder „Zierhasel“? „Die schönen und teuren Wörter sind für die Reichen.“
Das ist auch gut so, findet Oskars Mutter, denn wo kämen wir da hin, wenn arme Menschen über Wörter verfügten? „Dann verstehen die bald alles und kommen auf die Idee mitzureden.“ Und vielleicht würden sie sogar ihre harte Arbeit in der Fabrik aufgeben, wo sie schließlich herstellen, was als Statussymbol für diejenigen mit Geld unerlässlich ist?
Es ist eine Sozialstudie der subtilsten Sorte, was Regisseurin Friederike Förster in Koblenz abliefert. Feinste Nuancen einer Zweiklassengesellschaft beleuchtet sie mit ihrer Inszenierung auf eine Weise, durch die auch erwachsene Zuschauer*innen vollkommen neue Blicke auf die Dinge werfen. Gleichzeitig fordert sie mit dem ein oder anderen unbekannten Wort ihr kindliches Publikum auf, Bedeutungen zu erahnen und sich mit ihnen zu befassen, wo sie nicht offensichtlich erscheinen.
Niemals jedoch gibt es in diesem Stück den Holzhammer. Vielmehr sorgen Magdalena Roths witzig gestalteten Puppen, Schiedungs musikalische Themen, die vor allem Pauls Auftritte mit dem Xylophon und die Wörterfabrik mit harten Bässen begleiten, und Christina Pointners Bühne dafür, dass diese Stunde auf der Probebühne 4 schon vorbei ist, wenn sie doch gerade erst angefangen hat. „Die große Wörterfabrik“ ist ein Stück, das Kinder in ihren Wünschen nach Spaß und guter Unterhaltung ernst nimmt und mit ihnen grundlegende Fragen auf Augenhöhe verhandelt.
Die große Wörterfabrik. Von Valeria Docampo und Agnès de Lestrade.
Für das Puppentheater bearbeitet von Rinus Silzle
Premiere: 12.02.2022
Weitere Vorstellungstermine im Februar, März und April über die Theaterwebsite
Inszenierung: Friederike Förster
Bühne: Christina Pointner
Puppenbau: Magdalena Roth
Dramaturgie: Julia Schinke
Fotos: Arek Głębocki für das Theater Koblenz