Die aktuelle Kritik

Puppentheater Magdeburg: "Das Haus"

von Kathrin Singer

Theaterpädagogisches Langzeitprojekt mit Jugendlichen aus Syrien und Afghanistan.

„Über Grenzen gehen“ heißt das aktuelle Motto des Puppentheaters Magdeburg. Die Spieler der Produktion "Das Haus" nehmen das wörtlich und schieben die beiden grauen Mauerblöcke auf der Bühne gleich zu Beginn auseinander, um Platz zu machen. Platz für ihre Ideen, Träume und phantasievollen Szenen. Und vor allem Platz zum ausgelassenen Tanzen.

„Das Haus“ ist Ergebnis eines theaterpädagogischen Langzeitprojekt mit Jugendlichen vor allem aus Syrien, Afghanistan und Deutschland, die teilweise zum ersten Mal auf einer Bühne stehen. Was mit Google-Translator beginnt, gipfelt in einer gleichermaßen mitreißenden wie poetischen Aufführung, die vor allem auf eine die kulturellen Unterschiede hinter sich lassende Sprache setzt: Breakdance!

Ein Wohnhaus mit mehreren Stockwerken, Dachboden und Hof und voller lebhafter Bewohner ist ein Quell unterschiedlicher Geschichten. Diese haben die Mitspieler im Alter von 11 bis 18 Jahren gesammelt, erdacht, erinnert und daraus eine Szenenfolge poetischer, komischer und anrührender Episoden entwickelt. Betreut und begleitet wurden sie dabei fast ein Jahr unter anderem von Breakdancer Christian Sasse, der auch das äußerst wandelbare Bühnenbild erdachte, vom Leiter des Puppentheaterclubs, Michael Morche, von der Theaterpädagogin Marlen Geisler und in einem Maskenworkshop von dem afghanischen Regisseur und Puppenspieler Nasir Formuli.

Aus den beiden grauen Mauerblöcken bauen die Kinder alle Schauplätze: Wohnungen, Dachboden, Hof, Fitnessstudio und sogar einen Bus. Zahlreiche Koffer auf der Bühne lassen die Ungewissheit der Flucht immer anwesend sein. Dennoch sind es keine Fluchtgeschichten, die erzählt werden. Die Kinder haben in ihren eigenen Spielideen anders entschieden und erzählen aus dem Hier und Jetzt, Schlaglichter aus jugendlichem Alltag, begleitet von allerlei Fabelwesen mit von den Kindern selbst entworfenen fantasievollen bunten Masken. Da sind zwei Brüder, die in der engen Wohnung des Vaters keinen Platz zum Tanzen finden, das Mädchen, das in der traditionell muslimischen Familie ihre Rolle einzunehmen hat und ausbricht, die zarte SMS-Liebesgeschichte im Bus, ein Versteckspiel auf dem Dachboden, magische Schuhe, die den Träger perfekt tanzen lassen. Nur kurz leuchten schmerzhafte Erinnerungen auf, wenn einer der Jungs nüchtern erzählt, wie er seinen in Afghanistan zurückgelassenen Freund vermisst, und in einer Traumsequenz eine Gruppe weiß maskierter Gestalten die Freunde gewaltsam auseinander reißt. 

Es dominieren lebensfrohe, kraftvolle Szenen, denn eines schweißt die Jugendlichen zusammen: Breakdance. Über alle kulturellen Unterschiede hinweg – wenn es um geschickt ausgeführte, coole Moves geht, versammeln sich alle im Hof, und die durchweg maskierten Eltern schauen zu. Die fünfzehn Jugendlichen machen den Erwachsenen verblüffend einfach vor, wie ein Annähern gelingen könnte. Intendant Michael Kempchen wird später davon sprechen, dass Schritte der Integration genau auf diese Weise gelingen könnten. Und der Abend liefert die Momente, die einmal mehr klar machen, wozu Theater in der Lage und wie relevant es sein kann.

 

Info
Begleitet wurde das Projekt von jungen Reportern, den „Knipsern“, die professionell angeleitet von Journalistin Melanie Schwitzer das Projekt in einer Langzeitdokumentation festhielten. Die knapp einstündige Produktion ist auf Anfrage mobil buchbar und soll vor allem Schulen angeboten werden.

 

Premiere: 15. Oktober 2016

von M. Geisler, M. Morche und C. Sasse nach Geschichten des Ensembles

Foto: Jesko Döring

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