Westflügel Leipzig: Staub - Dust - אבק
Auf der kahlen Bühne liegt ein heller runder Teppich von vielleicht vier Quadratmetern. Drumherum sind Gegenstände arrangiert: Tupperdosen, eine Ukulele, eine Gasflasche, dünne Plastiktüten, im Hintergrund ein spinnenbeiniges Wesen. Vier Personen drängen sich auf der beengten Fläche und der Versuch, gleichzeitig auf der schmalen Holzbank Platz zu nehmen, erinnert an ein Kinderspiel, bei dem der langsamste stets leer ausgeht.
Wie bin ich geworden, wer ich bin, wer sind die anderen und wie lässt sich das verbinden? Auf kleinstem Raum treffen vier Leben voller Geschichten aufeinander, deren einzelne Fäden sich durch einen Reigen von Erzählen, Bespielen und Übersetzen zu einem Netz gemeinsamer Erinnerung verweben.
Der Traum von einem Baum, die Entstehung der Erinnerung, das Erleben des eigenen Herzschlags mitten in der Nacht - Motive aus Kindheitsträumen der Akteur_innen ziehen sich durch das Geschehen und schaffen eine persönliche und sehr plastische Erzählweise, die das subjektive Erleben durch den starken Einbezug körperlicher Erfahrung für das Publikum öffnet. Die jüdische Tradition der Mikwe ist Ausgangspunkt für Inbal Yomtovians Familiengeschichten. Anschaulich vollzieht sie die zeremonielle Reinigung am Arm ihres Mitspielers, welcher zunächst von Schmuck befreit und dann sechs Mal in reines Wasser getaucht wird. Ihre mit diesem Ritual verknüpfte Erinnerung bildet eine Art roten Faden durch den Abend, welcher sich im Folgenden immer weiter aufdröselt und mit Elementen anderer Geschichten verbindet.
Charlotte Wildes Live-Musik bildet dabei ein ganz eigenständiges Element, welches die Geschichten begleitet, um dann eigenen Spuren zu folgen, sich von den Narrationen löst und verselbständigt. Der Klang breitet sich als eigene Erzählung aus, ruft Erinnerungen hervor, schafft Bilder und Assoziationen und erzeugt Räume der Phantasie. Das Violinspiel vom Blatt wird zum Geräuschteppich und der Geigenbogen verlässt die Violine, um an faserigen Schnüren ungewohnte Töne zu erzeugen.
In Ari Teperbergs Erzählung Before that entspinnt sich aus ‚I’m Ari, I’m here‘ zunächst seine eigene Biographie, welche im Zurückverfolgen seiner Wurzeln zum Abriss der gesamten Familienhistorie wird. Aufgespannt an verblüffenden Zufällen und widerspenstigen Details entfaltet sich die Weltgeschichte als riesiges Puzzle winziger Einzelgeschichten. Im fliegenden Wechsel von Person, Zeit und Schauplatz erzählen persönliche Schicksale ganz eigene Geschichten über Migration, Liebe und Tod, die mit dem Erzähler nur über seinen Nachnamen verbunden sind. Der Lauf zurück in der Zeit reicht über die Antike bis zur Steinzeit und kulminiert in einem lakonischen ‚Big Bang‘, das der uferlosen Suche nach dem Ursprung ein Ende setzt.
Die Schichtung von Zeit und Raum in der Erinnerungskraft jedes Einzelnen verräumlicht sich in Michael Vogels Beschreibungen vom Haus seiner Großeltern, welches er auf der eng bemessenen Spielfläche zu zeichnen versucht. Seine Mitspieler_innen folgen jedem Bild mit ihren Blicken und Körpern und visualisieren die erinnerten Situationen, indem sie beispielsweise am Telefontischchen der Kindheit Platz nehmen und den imaginierten Hörer ans Ohr pressen. Kleine Gliederpuppen aus Draht erinnern an Giacomettis abgezehrte Formen. Auf die hölzerne Bank aufgesteckt werden sie zum Austragungsort des gesamtgalaktischen Geschehens. Die in ihrer Mitte an einem Stab befestigte Kugel sei nämlich die Erde – und analog zur familiär erzählten Weltgeschichte werden die Verwobenheit der Dinge und die Wechselwirkungen zwischen Mikro und Makro nun anhand universaler Ordnungen zu begreifen versucht. Die anderen Spieler_innen nehmen das Geschehen auf und verwandeln es in Bewegung und Musik. Am Punkt höchster Beschleunigung mündet die Fahrt im Tableau zu Brahms Verstohlen geht der Mond auf. Diese A-Cappella-Einlagen, zu denen die Spieler_innen aus dem polyphonen Trubel heraustreten und sich zu strengen Formationen arrangieren, strukturieren das Geschehen. Wie ein Refrain bilden sie den Rahmen der einzelnen Episoden, versammeln die während der Geschichten in unterschiedliche Vorgänge zerstreuten Akteur_innen wieder und schaffen motivische Übergänge zwischen den Abschnitten.
Unterschiedliche Objekte und Figuren begleiten den Abend. Im Vordergrund stehen die Körper der Spieler_innen selbst, welche als Träger von und Akteur_innen in Geschichte(n) selbst zu erzählenden und erzählten Dingen werden. Dazwischen treten seltsame Gestalten, die wie Wesen aus einer anderen Welt wirken. Elemente aus den Geschichten zweier Spieler_innen über Modellflugzeugbau und unkoscheren jellyfish fügen sich zu fliegenden Quallenpuppen zusammen, die die Spieler_innen mithilfe einfacher Plastikbeutel, etwas Tesafilm, Schnur und einer Flasche Helium, unter der Geschichte zusammenbauen und in gemeinschaftlicher Anstrengung mittels dünner Fäden und Atemluft in der Schwebe halten. Zwei Seeungeheuer mit großen Zähnen und düsteren Augen verfolgen aufmerksam die Vorgänge, um dann unversehens wieder zu entschwinden. Aus einem Koffer entspringt eine feingliedrige Fadenpuppe mit riesigem Kopf, Händen und Füßen, hockt sich auf den Kofferrand und übernimmt für kurz eine Rolle in der Erzählung einer Spielerin. Eine weitere Figur, bestehend aus zwei Zigarette rauchenden Händen, über ein Fadenkreuz geführt, unterstützt die Geschichte vom rauchenden Großvater und ein zartes Männchen saust am Ariadnefaden von der Decke. Doch so unberührt wie sie hinein gelangen, treten die Dinge auch wieder aus den Erzählungen der Menschen heraus und wirken wie ein Verweis auf ihre ganz eigene Art der Zeitlichkeit, welche sich von der menschlichen Verfasstheit von Biographie und Erinnerung unterscheidet.
Aufeinandertreffen, sich vereinen und vereinzeln, sich in Harmonie finden und zum Chaos zusammentun: Staub - Dust - אבק erzählt in hundert Minuten dicht verwobene, heiter faszinierende und auf seltsame Weise wunderbar berührende Geschichte(n).
Spiel, Ausstattung: Ari Teperberg, Michael Vogel, Inbal Yomtomvian
Live-Musik: Charlotte Wilde
Dramaturgie: Jonas Klinkenberg
Regie: Hendrik Mannes und Antonia Christl
Foto: Dana Sinaida Ersing