Puppentheater Magdeburg: „M – Eine Stadt sucht einen Mörder“
Bitterböses Singspiel mit Clowns
Die Troll-Höflinge, Gnome und Kobolde des Bergkönigs sind kaum zu stoppen, Peer Gynt zu lynchen. Edvard Griegs Musik aus der Halle des Bergkönigs nutzte Fritz Lang als Leitmotiv und einzige Filmmusik seines ersten Tonfilms. Die gepfiffene Melodie kündigt den Serienmörder an und wird ihm am Ende zum Verhängnis. In der Magdeburger Uraufführung der Bühnenfassung von "M - Eine Stadt sucht eine Mörder" spielt auch dieses Motiv eine Rolle. Das aber ist fast schon alles, was die junge Regisseurin Roscha A. Säidow von der Langschen Filmfassung übernimmt, obwohl sie die Geschichte des Kindermörders Hans Beckert eng am Drehbuch Fritz Langs entlang erzählt.
Das gesamte, siebenköpfige Ensemble des Puppentheaters wird zu einer Gruppe verschrobener Gestalten, grell geschminkter böser Clowns, die mittels unzähliger Puppen die grauslige Geschichte erzählen. Mit viel Musik, nebst Songtexten erdacht von Roscha A. Säidow selbst und arrangiert vom musikalischen Leiter Andres Böhmer. Bigbandartiger Sound mit Klavier, Saxofon, E-Gitarren, Akkordeon, zarte Soli und Duos bis hin zu mehrstimmigen choralartigen Sätzen, ein wenig Operette ist auch dabei. All das wohl dosiert, nie zum Selbstzweck und mit Hingabe gesungen und musiziert.
Durch tagesaktuelle Fälle in Sachsen-Anhalt und Berlin liegt die Brisanz des Stoffes auf der Hand. Säidow vermeidet zu direkte Anspielungen, dennoch werden „besorgte“ und gleichzeitig sensationsgeile Bürger thematisiert, Bürgerwehren, Hilfspolizisten und mediale Dauerpräsenz. Handpuppen, die wie aus zufälligen Alltagsfundstücken von den Darstellern selbst zusammengebastelt wirken, werden zu einer pöbelnden Masse, bereit, den Serienmörder zu lynchen. Polizei und Unterwelt befeuern die Hysterie, den Ruf nach Totalüberwachung.
Puppenbauerin Magdalena Roth zeigt eine schier überbordende Fantasie; bei einigen ihrer Kreationen wie den Figuren des Ministers und des Kommissars Lohmann muss man zweimal hinschauen, wie die Puppen mit den Menschenköpfen der Darsteller überhaupt geführt werden. Ausstatterin Julia Plickat hat einen kastenförmigen Bühnenaufbau als Mischform aus düsterem Dachboden, Hobbykeller und Rumpelkammer mit aufgesetzter Terrasse geschaffen. Schattenspiele per Overheadprojektor schaffen zusätzliche Ebenen.
Anders als im Film mit den ständig präsenten übergroßen panischen Augen Peter Lorres bleibt der Mörder in Säidows Inszenierung aber bis zum Schluss unsichtbar. Sein Text wird vom Ensemble gemurmelt, „Mörder unter uns“ eben. Es erinnert an Alfred Hitchcocks „Psycho“, wenn die Wind- und Nebelmaschinen des Theaters und wehende Plastikvorhänge den kalten Hauch der Mörderhand physisch spüren lassen und jedes Mal ein anderer Darsteller mit einem neuen Kreidestrich ein weiteres Opfer verzeichnet. Gänsehautgarantie!
Die reife Ensembleleistung gipfelt in der Präsentation der lebensgroßen Puppe des verschleppten Mörders, die statt eines Kopfes ein leeres Metallgestell hat. Zu dem vom Band eingespielten unter die Haut gehenden Verteidigungsmonolog Peter Lorres aus dem Film ziehen die Darsteller Schubladen aus dem Bauch der Puppe auf, mit den Opfern des Mörders. Atemlose Stille im Publikum. Die absurde „Gerichtsverhandlung“ der Unterwelt mit den Stimmen des Anklägers, dem Verteidiger, den betroffenen Müttern und der Lynchmob-Stimmung wird mit äußerster Sachlichkeit nacherzählt. Damit gelangt das Thema endgültig ins Heute und in die Hände des Publikums.
Premiere: 2. April 2016
REGIE und KOMPOSITION Roscha A. Säidow
AUSSTATTUNG Julia Plickat
PUPPEN Magdalena Roth
KOMPOSITION und MUSIKALISCHE LEITUNG Andres Böhmer
DRAMATURGIE Katrin Gellrich
SPIEL Claudia Luise Bose, Anna Wiesemeier, Freda Winter, Richard Barborka, Florian Kräuter, Lennart Morgenstern, Leonhard Schubert
FOTO Jesko Döring