Westflügel Leipzig: Expeditionen ins junge Figurentheater
Eine spannende Bandbreite an Arbeiten von Nachwuchskünstler*innen und Absolvent*innen künstlerischer Studiengänge beeindruckte das zahlreich erschienene und sichtlich begeisterte Publikum durch innovative Formate und interdisziplinären Spielweisen. In der Auseinandersetzung mit Themen wie Einsamkeit, Leistungsdruck und Selbstoptimierung verband die Arbeiten die Erforschung möglicher weiblicher* Perspektiven auf der Suche nach Utopien des Selbst zwischen Wunsch und Wille – und dem Blick der Außenwelt darauf.
Den Auftakt machen Li Kemme und Britta Tränkler mit „Ich bin gut isoliert“, eine Studie zu Coolness in fünf Bildern, die sie als Zwischenstand der Erarbeitung ihrer Abschlussarbeit präsentieren. Mit provozierender Langsamkeit performt die Spielerin im roten Bademantel martialische Gebärden, Popstarattitüden und lässiges Männlichkeitsgehabe. Ein Häufchen Eiswürfel liegt auf der ansonsten leeren Bühne, cool as ice zerkracht ein Würfel zwischen den Zähnen der Spielerin. Das Publikum lacht angesichts der klischeehaften Übertreibung produzierter Souveränität, in der jede Handlung zur Pose erstarrt. Dagegen stehen Bilder kontrastierender Offenheit. Das entleerte Gesicht der Spielerin ist zum Publikum gerichtet, zeigt hier ein Lächeln, da eine Verunsicherung. Mit einem Eiswürfel in jeder Hand vervollkommnet sich das Bild der schmelzenden Kälte durch die Tränen, die von den Wangen tropfen – eine gelungene Materialschau, die sich dem Begriff ‚Coolness‘ in einprägsamen Bildern auf motivisch stimmige Weise nähert.
In „Victoria 2.0“ der Moment Association aus Ljubljana entwickelt sich der Kampf um Lässigkeit, Fitness und Selbstoptimierung zur körperlichen Höchstleistung. Zwischen Rennradfahrt und Boxtraining erläutert die Spielerin virtuos keuchend sämtliche ernährungsphysiologischen Fakten und Notwendigkeiten der Selbstkasteiung auf dem Weg zum Glück inmitten einer von Dingen überbordenden Bühne. Abgründige Illustration erfährt der Mythos vom Schönen, Schlanken, Erfolgreichen durch detailreich und unglaublich witzig erzählte Geschichten des sogenannten Glücks. Verkörpert durch Barbie oder als Ei mit Blondschopf – Victoria ist eine Siegerin. Sie gewinnt, wird geliebt, hat Mann, Haus, Auto und einen Obstgarten – ein perfektes Leben, wäre da nicht das immerwährend zweifelnde Schmunzeln. Das sehr kluge und eindrucksvolle Spiel mit der winzigen Kamera, die den Fokus des Erzählten immer wieder von der wahren Liebe zu Fruitporn, vom romantischen Sex zu schlierigen Eiweißfäden verschiebt, ist von endgültigen Antworten weit entfernt, macht aber unglaublichen Spaß und hinterlässt im Hinausgehen ein leises Lächeln auf den Gesichtern der Zuschauenden.
Die schützende Hülle überlegter Außenwirkung verlassend geht „Im Nebel“ auf eine eindringliche Reise durch das Dunkel der Gefühle. Im Stationenlauf durch den Publikumsraum entwirft Eva-Maria Schneider aus Kostümteilen wie Rockzipfel und Jackenärmel immer neue Figuren, deren unterschiedliche Geschichten von Einsamkeit sie im eindringlichen Zwiegespräch mit einzelnen Zuschauer*innen erzählt. Der Sprung in die Wirklichkeit erfolgt mittels aktueller youtube-Kommentare zum Thema und bleibt als offene Frage im Raum stehen: „Ich bin immer noch einsam. Und jetzt?“
In der Bar sucht „Josefine“, eine feingliedrige Puppe mit großen dunklen Augen und filigranem Wesen, unter getragenen Akkordeonklängen ihr schüchternes, zaghaftes Selbst im Laubhaufen. Der dort gefundene goldene Stöckelschuh verleitet die an der Hüfte ihrer Spielerin befestigte Puppe zu einem eleganten Tanz zu Edith Piafs ‚La vie en rose‘ – doch klirrende Störgeräusche lassen vermuten, dass es ja vielleicht auch anders ginge. Und tatsächlich: Der im Laub entdeckte Lederschuh bewirkt einen souveränen Jazz, gekonnt führt Verena Volland eine nun sehr viel selbstsicherere Josefine mit ausladenden Bewegungen übers Parkett, bis schließlich der letzte Ton verklingt und damit auch der Entwurf eines Selbst wie eine Wunderlampe verlischt und Josefine sich wieder in ihren Bau zurückzieht. Wer man wohl sein könnte…
Wer, ja wer, könnte man sein, könnte ich sein, wenn ich mich nicht immer so abmühen würde? Auf die Suche nach der Stille, dem Ende aller Darstellung – „Denn die Premieren werden immer besprochen, nur um die Dernieren kümmert sich keiner!“ - begibt sich Li Kemmes öffentliche Versuchsanordnung "Echo of End". Von zehn Apparaten umringt sucht die Spielerin nach einem Ausweg. Beschallt von Tonbandaufnahmen, die über den Status quo sinnieren, erklingt das kosmische Hintergrundrauschen, dazu der Lärm der Vergangenheit in Form eines sich selbst betätigenden Akkordeons, zwei Hände rollen einen Globus über die Bühne, ein großer Trichter misst die Zeit mit rieselndem Sand. Inmitten des Lärms liegt plötzlich die Lösung so nah: Einfach aufhören, wie die Maschine, die sich selbst den Stecker zieht. Und kurz, als auch das letzte Sandkorn verrieselt ist, ist es beinah still.
Stücke:
Tryout: Ich bin gut isoliert. Von Li Kemme und Britta Tränkler [Stuttgart]
Tryout: Im Nebel. Von Eva-Maria Schneider. Musik: Moritz Decker [Leipzig]
Tryout: Josefine. Von Verena Volland [Köln]
Victoria 2.0. Von Moment Association [Ljubljana]
Echo of an End. Von Li Kemme [Stuttgart]
Für dich reiß ich die schönsten Blumen raus. Von Britta Tränkler und Anne-Sophie Dautz [Stuttgart]
Mann + Hut = Blume. Von Liesbeth Nenoff [Stuttgart]