theater junge Generation, Dresden: "Djamila"
Sphärische Eingangsmusik begleitet den Einlass an diesem Premierenabend. Der Bühnenraum ist dunkel, eine kleine Lichterkette deutet einen Sternenhimmel an. Aus mehreren Wohnwagen kriechen drei verschlafene Gestalten, lüften ihre Schlafsäcke, putzen Zähne. Schnoddrig ihr Ton, langsam ihre Bewegungen, ihr Style liegt irgendwo zwischen glitzernden Wildwest-Exotismen und Jogginghose. In Glitzerstiefeln und Leo-Look präsentiert sich die titelgebende Djamila (Alina Montana Weber) mit lauter Stimme und großen Gesten als toughe Lady, die genau weiß, was sie will. Erzählt wird die Geschichte vom inzwischen gealterten Said (Uwe Steinbach), dessen 15-jähriges Ich (Carlo Silvester Duer) die Liebesgeschichte zwischen der verheirateten Djamila und dem Kriegsheimkehrer Danijar (Ulrike Schuster) im Sommer 1943 beschreibt.
Grundlage der Handlung ist die russischsprachige Novelle „Dshamilja“ des kirgisischen Autors Tschingis Torekulowitsch Aitmatow (1928 – 2008), die vielfach übersetzt, erfolgreich verfilmt und mehrfach als Hörbuch eingesprochen wurde. Die Erzählung ist simpel: Während Djamilas Ehemann Sadyk, im Zweiten Weltkrieg kämpft, verliebt sie sich in Danijar, einen stillen Menschen, dessen Gesang auch Said begeistert, sodass dieser seine Aufgabe vernachlässigt, Djamilas Treue zu bewachen. Stattdessen verfolgt Said die wachsende Liebe der beiden gebannt. In der Novelle ist diese Geschichte mit weiteren Diskursen verflochten: Traditionelles kirgisisches Nomadentum und die Arbeit im sowjetischen Kolchos treffen auf Überlegungen zum revolutionären Potenzial der Kunst, die Liebe zur Natur und den Sinn des Lebens.
Tut sich der ältere Said zunächst als Erzähler hervor, so mischen sich im Laufe der Geschichte auch die anderen Akteur:innen in die Handlungsbeschreibung ein: Auf eine abfällige Bemerkung hin erhebt Djamila ihre Stimme: „Ich übernehme jetzt auch mit die Story.“ Abwechselnd durchbrechen die Figuren die als klassisches Drama aufgebaute Inszenierung, indem sie die Szene im „Freeze“ versteinern lassen und als prosaische Erzählinstanzen, mit rotziger Kommentarstimme oder persönlicher Perspektive das Geschehen erläutern.
"Djamila" © Klaus Gigga
Besonders hervorzuheben sind vier Statisti:innen, die zunächst im Publikum per Spotlight Live-Applaus und Lacher erzeugen und schließlich auf der Bühne wunderschön dreistimmig mit Akkordeonspiel russische Volkslieder singen. Zu historischen und lokalen Referenzen sowie volksmythologischer oral history gesellen sich zeitgenössische Anleihen, die die Handlung aus Raum und Zeit in einen unbestimmten Möglichkeitsraum entgrenzen. Markant sind hier die übergroßen Papp-Memes zu nennen, die die Köpfe der Spieler:innen mit unterschiedlichen Gesichtsausdrücken zeigen. Wahlweise als Maske, Plakat oder Aufsteller dienen die Objekte als Spielfigur, Alter Ego oder überspitzter Kommentar zum Geschehen. Dadurch entsteht eine Spaltung zwischen Spieler:in, Rolle, Erzählinstanz und kollektiver Rezeptionsinstanz – ein vielstimmiges Rauschen in den Kommentarspalten auf Twitter, Insta, TikTok – auf einer weiteren Ebene.
Als Referenz an den für Aitmatows Schaffen bis in die 1970er-Jahre kennzeichnenden sozialistischen Realismus ließe sich die naturalistisch gemalte Bühnenrückwand lesen, die Wald, Flüsschen und im Vordergrund einen Campingstuhl zeigt, verweist sie doch zugleich auf die Dimension des Künstlerischen, die in Aitmatows Novelle eine der zentralen Diskurslinien bildet. Exkurse zu Schicksal und Kunst liefern ideengeschichtliche Hintergrundinformationen und bilden einen weiteren Referenzpunkt, der in die eigene Lesart mit eingebunden werden kann, dazu gesellen sich unterschiedliche Hühner als Pappaufsteller, Kopfmaske etc., die als zur Kunst manifeste reale Gegenpole deklariert werden.
"Djamila" © Klaus Gigga
Wer „richtiges Figurentheater“ gesucht hat, wird die Vorstellung möglicherweise enttäuscht verlassen. Anstatt eine Geschichte lediglich mit Puppen und Figuren „durchzuinszenieren“, nutzen die vier Puppenspieler:innen unter der Regie von Katharina Kummer vielfältige Spielweisen, Techniken und Elemente aus Puppen- und Objekttheater für eine sehr spezifische Form der Darstellung, die mit unterschiedlichen Formen von Narration und Re:Präsentation spielt – und ihrer Kritik im Epilog selbstironisch vorgreift: „Sie machen das Puppentheater kaputt!“, schreit der junge Said, eine kleine Gliederpuppe mit Pappschildgesicht aus dem (Guckkasten-)Fenster eines Wohnwagens schleudernd, während die Statist:innen ums Grillfeuer sitzend die Lästereien der Leute nach Djamilas Flucht mit Danijar vor dem heimkehrenden Ehemann performen.
Was Louis Aragon einst als die „…für mich […] schönste Liebesgeschichte der Welt“ bezeichnete, wird auf der kleinen Bühne des tjg Dresden zum trashigen Jugenddrama, das die Zuschauer:innen mitnimmt auf eine irrwitzige Fahrt durch fetzenhafte Szenen, multiperspektivisches Erzählen und vielschichtige zeitliche und räumliche Kontexte. Mit enormer Geschwindigkeit wird eine Story erzählt, die stilistisch zwischen Trailerpark und zeitgenössischen Selbstdarstellungen auf Social Media – „Ich habe mich total verändert – Bitch Life Is Over!“ – oszilliert und der es dabei doch immer wieder gelingt, zärtliche Momente zu erzeugen, die sich kurz authentisch anfühlen. Dass zwischen flapsigen Kommentaren, Illusionsbruch und Brechthaften Exkursen immer wieder etwas von der die Novelle auszeichnenden Fragilität junger Liebe, Hoffnung auf das bessere Leben und Glauben an die Kunst aufscheint, ist neben dem hohen Unterhaltungswert ein zentraler Effekt der zugleich herausfordernden Vitesse der Inszenierung. Das junge Publikum scheint angetan, in der Presseriege raunt es Verrisse. Es lohnt sicher, sich ein eigenes Urteil zu bilden.
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nach Tschingis Aitmatows Erzählung "Dshamilja" ~ aus dem Russischen von Gisela Drohla ~ in einer Fassung von Katharina Kummer ~ Puppentheater ~ 16+
Premiere:
26.3.2022, Kleine Bühne, tjg Dresden
Mitwirkende:
Regie und Text: Katharina Kummer
Bühne, Kostüme und Masken: Julia Bosch
Musik: Jan Leitner
Dramaturgie: Ulrike Carl
Theaterpädagogik: Dorothee Paul
Spiel: Carlo Silvester Duer, Ulrike Schuster, Uwe Steinbach, Alina Montana Weber, Mitglieder des "Musiktheater Expression" (Statist:innen)
Fotos: Klaus Gigga