Lehmann und Wenzel & Flunker-Produktionen, Leipzig: „Die Rote Zora“
Kind armer Eltern zu sein, ist nicht leicht. Als Waisenkind armer Eltern hat man es noch schwerer: Nachdem Branko seine Mutter zu Grabe tragen musste, greift er auf dem Fischmarkt hungrig nach einem Fischkadaver in der Gosse und wird prompt von der Polizei als Dieb gesucht. Zu Martinshorn mit Tanzbeats laufen zwei der Spielerinnen (Samira Lehmann und Claudia Engel) den Bühnenraum und den Publikumsbereich ab, auf den Köpfen ein Blaulicht, an den Händen jeweils zwei behelmte Polizisten als Handpuppen. Die Zuschauer*innen schicken sie in die falsche Richtung, Ehrensache. Das ist der richtige Spirit, denn es geht um Solidarität und darum, die Guten oder die Unschuldigen nicht in die Pfanne zu hauen. Zwar wird Branko erst einmal verhaftet – großartig dabei der Einsatz von einer Art Rautenzaun, der Greifwerkzeug und Gitterstäbe gleichzeitig zu symbolisieren vermag – doch im Sinne der schon erwähnten Solidarität befreien ihn Zora und ihre Bande. Sie werden kriminell, um sich ernähren zu können, bemühen sich jedoch, nicht dem alten Fischer zu schaden, sondern lieber die mageren Hühner des reichsten Bürgers der Stadt zu stehlen.
"Die Rote Zora" © Thilo Neubacher
Das klingt furchtbar ernst, doch die Duos Flunker-Produktionen (Claudia Engel, Matthias Ludwig) und Lehmann und Wenzel (Samira Wenzel, Stefan Wenzel) gießen diesen Stoff gemeinsam in eine heitere Form, die dank des ebenso gekonnten wie passenden Einsatzes von Musik, Bühnenbild und verschiedenen Figuren ein schnelles Tempo erhält. Die Bilder wechseln rasch und scheinbar ohne Mühe: Zu Beginn tragen die vier unter feierlichem, kraftvoll-düsterem Gesang den Sarg von Brankos Mutter in den Saal. Binnen kurzer Zeit, eine Mundharmonika und ein paar Klanghölzer später, verwandelt sich die Bühne von der Beklemmung der Beerdigungsszene und dem wenig liebevollen Monolog von Brankos bleicher Großmutter – ein groteskes Schreckgespenst mit riesigen Klauen, ordentlich qualmender Zigarette und einem quasselnden Papagei auf der Schulter, von dem wir lernen, dass Wohlhabende keine Armut mögen – in geschäftiges Markttreiben: In mit Fischgesichtern gestalteten Kisten werden dem Publikum Schätze des Meeres wie Trockensprotten und bunte, vor Frische tropfende Fische, Aprikosenkonfitüre oder Maiskölbchen feilgeboten. Die Publikumsbeteiligung funktioniert, mit besonderer Freude natürlich, als sich jede Menge Aprikosen aus Schaumstoff im Saal ergießen und dazu einladen, die blasierten Bürger und ihre fiesen Söhnchen zu bewerfen.
Gut und Böse machen sich an Äußerlichkeiten fest, auch wenn es so einfach nicht bleiben wird: Die fiesen Söhnchen sind ebenfalls quasi-uniformierte Handpüppchen, der Bürgermeister eine eitle Stabpuppe im weißen Anzug, den reichsten Bürger der Stadt verkörpert Stefan Wenzel mit fahler Maske, Fellumhang und arrogant gerecktem Kinn. Ihn begleitet als Handpuppe ein düsterer Höllenhund. Die Bandenmitglieder sind lebendig gestaltete Stabmasken, in stets rot-oranger Begleitung. Ihr Versteck, eine Burg, wird dem Publikum in einer detailreich ausgearbeiteten Miniatur vorgestellt. Düster wirkt ebenfalls der grob-massive Fischer, der Partei für die Bande ergreift, ganz wie die schöne Tochter des Bürgermeisters, die von der italienischen Oper träumt und in komplett anderen Sphären durch den Bühnenraum zu schweben scheint.
"Die Rote Zora" © Thilo Neubacher
Zu hören sind zarter Frauengesang und Gitarre, Megafon und Trillerpfeife oder das Knallen von Schüssen. Der plötzlich auseinandergefallene Sarg wird blitzschnell zum Hintergrund für das Messerwerfen, das Branko als Mutprobe zur Aufnahme in die Bande bevorsteht. Das Messerwerfen mit Trommelwirbeln wird zum großen jahrmarkthaften Spektakel. Die Angst spielt auch mit, als die Bande mit dem Fischer ausfährt: Instrumentales Getöse vermittelt das Chaos, nachdem Branko über Bord gegangen ist und wiederbelebt wird, seine Rettung markiert – natürlich – ein ausgespuckter Fisch, der in hohem Bogen Richtung Publikum fliegt. Mit Riesenfang fahren sie nach Hause, jetzt sind sie reich. Arbeit lohnt sich also. Oder auch nicht. Denn es gibt noch korrupte Schiebereien um Fangrechte und Fanggesetze. Die Wohlhabenden mögen halt die Armut nicht. Und Bürger mögen gesetzloses Chaos nicht. Sie lassen aber huldvoll von der Strafverfolgung ab und integrieren die Kinder in die Stadtgesellschaft – durch Arbeit.
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Die Rote Zora – Figurentheater mit Live-Musik für alle ab 10 Jahren, basierend auf dem Roman von Kurt Held aus dem Jahre 1941
Premiere: 25.11.2022, weitere Termine Open Air ab Juni 2023
Regie: Michael Vogel
Spiel und Ausstattung: Samira Wenzel, Stefan Wenzel, Claudia Engel und Matthias Ludwig
Dramaturgie: Janne Weirup
Live-Musik: Stefan Wenzel
Metallarbeiten: Heiko Lehmann
Produktionsleitung: Nina Stammer