Die aktuelle Kritik

Marc Schnittger/Theater Kiel: "Die musikalische Hölle"

Von Michael Isenberg

Eine Inszenierung ausgehend vom gleichnamigen Flügel des Hieronymus Bosch-Triptychons.

 

Foto Olaf Struck

 

Corpus delicti

Für die Eröffnung der Opernspielzeit hätte man sich kein düstereres Anfangsbild vorstellen können: Musikinstrumente, wie Leichen auf einem Schlachtfeld über der Bühne verstreut, nach und nach von einer Axt zerhackt, während im Hintergrund die Flammen des Hochofens züngeln. Diese „musikalische Hölle“, die Marc Schnittger ausgehend von dem gleichnamigen Flügel des Triptychons „Der Garten der Lüste“ von Hieronymus Bosch entwirft, erscheint zunächst wie ein Kontrast zur Vorlage: Während bei Bosch die Musikinstrumente zu Folter- und Tötungsmaschinen werden, quält hier der Mensch die Musik. Doch ganz im Sinne eines Film noir täuscht der erste Eindruck ...

In einer regnerischen Nacht sucht der kurz vor dem Durchbruch stehende Violinist Georg Schnittelbach eine Werkstatt auf, um seine Geige reparieren zu lassen. Der Sekretär Rott Epstein (gespielt von Schnittger selbst) teilt ihm jedoch mit, die Werkstatt habe bereits geschlossen. Nach mehrmaligem Drängen gewährt er Schnittelbach schließlich einen Warteplatz auf dem Dachboden des Hauses. Dort findet er sich wieder als einer von vielen: Auf dem Dachboden hat sich bereits ein höllisches Sammelsurium von Musikern und Komponisten eingefunden, die jahr- und jahrzehntelang auf ihre Instrumente warten, sich im Labyrinth des Hauses, ihren eigenen Illusionen und Wahnvorstellungen und im gegenseitigen Streit ums Überleben verirren und verteufeln.

In Gesprächen über Eitelkeit und Kunst enthüllen die Figuren im Laufe des rund 80-minütigen Abends ihre panische Angst vor dem Scheitern und davor, den eigenen und fremden Erwartungen nicht mehr zu genügen. Und so erscheint die Verbrennung der Instrumente, die als Höllenbildnis den Abend einleitet, letztendlich als ein Akt der Befreiung.

Neben diesem klugen Plot lädt Schnittger durch seine zahlreichen Zitate und Anspielungen zum genauen Hinsehen und –hören ein: Gab es diesen Voss, von dem überall Noten in der Werkstatt herumliegen, nicht wirklich einmal, bevor er in Vergessenheit geriet? War das nicht gerade eine satanische Geste, mit der sich Epstein, der omnipräsente Puppenspieler, den Fussel vom Hemd gewischt hat? Wieso heißen zwei der Komponisten ausgerechnet Döblin und Pollock? Schmoren Kunst, Literatur und Musik hier in derselben Hölle? …

Dazu sind die fantasievoll und ausdrucksstark gestalteten Puppen (Schnittger), das handwerklich hervorragende und facettenreiche Spiel, die stimmungsvolle, eigens für den Abend komponierte Film- und Kammermusik (Jan Peter-Flug, gespielt vom Trio Sonar) so perfekt aufeinander abgestimmt, dass man dem Untertitel des Abends – „eine Odyssee durch Zeit, Raum und Klang“ – nur zustimmen möchte. Doch der Kahn, den Schnittger und die Regisseurin Nele Tippelmann auf’s Wasser setzen, fährt für eine Irrfahrt etwas zu sicher und gemächlich dahin. So verliert sich mit der Zeit der Abend in der liebevollen Zeichnung der Figuren und in ironischen Zwischenszenen.

Dabei würde man sich inmitten räumlicher und gedanklicher Labyrinthe auf morschen Untergründen nur wünschen, tatsächlich einmal den Boden unter den Füßen zu verlieren.

 

"Die musikalische Hölle"

Figurentheater Marc Schnittger und Theater Kiel

Premiere: 01. September 2012

Regie: Nele Tippelmann
Text | Bühne | Puppen: Marc Schnittger
Musik: Jan-Peter Pflug, Georg Friedrich Händel
Musiker: Trio Sonar - Lisa Lammel (Violine), Daniel Sorour (Violoncello), Nora Rennau (Bratsche) sowie Jan-Peter Pflug (Live-Elektronik)
Spiel: Marc Schnittger, Roman Laloi, Stephan Tresp

 

www.theater-kiel.de

Auf unserer Portalseite: Figurentheater Schnittger

 

 

In Zusammenarbeit mit double - Magazin für Figuren-, Puppen- und Objekttheater

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