Die aktuelle Kritik

Schauspiel Dortmund: „Der futurologische Kongress“

von Honke Primož Rambow

Stanislaw Lems Science-Fiction-Klassiker als Live-Animationsfilm mit Puppen.

 

Durch die Realitätsebenen und zurück

Vergangene Spielzeit zeigte das Künstlerkollectiv Sputnic bereits Michel Houellebecqs Roman „Möglichkeit einer Insel“ als Live-Animationsfilm am Schauspiel Dortmund. Nun namen sie sich den SciFi-Klassiker „Der futurologische Kongress“ von Stanislaw Lem vor und erweiterten ihr Konzept für die Darstellung der kompliziert verschränkten Realitätsebenen der Vorlage deutlich.

Alles, was auf der Leinwand im Bühnenhintergrund zu sehen ist, wird live von den vier Schauspielern an einem kreisrunden Arbeitstisch produziert. Dabei kommen sowohl animierte Zeichnungen wie abgefilmte Miniaturbühnenbilder zum Einsatz. Los geht es mit einem dramatischen Vorspann: Während Theatermusiker T.D. Finck von Finkenstein – ebenfalls auf der Bühne und neben Musik und Soundeffekten für einige kleinere Rollen zuständig – in die Tasten greift und einen 70er-Jahre-Trashfilm-Elektroniksound erklingen lässt, zoomt Marlena Keil auf das Logo der Produktionsfirma. „Schauspiel Dortmund“ steht da zwischen zahllosen Styroporsternchen. Das hat Charme. Dann gibt es gleich Action. Uwe Schmieder lässt einen Astronauten-Stabpuppe Reparaturen an einer Raumstation aus Konservendosen ausführen, ein Element löst sich und treibt in den Raum, in einer waghalsigen Aktion und ohne Sicherung kann der Astronaut das Bauteil zurückholen und wieder reparieren. Der Astronaut ist Tichy und die Hauptfigur in Lems Erzählung. Nach seiner lebensgefährlichen Aktion im All wird er aus der Raumstation abberufen, um den futurologischen Kongress in Costricanas zu besuchen.

Die Reise dorthin, die Ankunft im hochmodernen Hilton Hotel und der Kongress werden als Comic erzählt. Die Schauspieler filmen in schnellem Wechsel Bilder ab, und animieren sie teilweise. Da klimpern mal Augen, im Gespräch bewegen sich Lippen oder eine Hand winkt. Dazu sprechen sie die Rollen. Das geschieht in perfekter Koordination und lässt auf der Leinwand einen Zeichentrickfilm mit schnellen Schnitten und viel Witz entstehen.

Wenn sich dann in der Geschichte die Realitätsebenen zu verschieben beginnen – der Kongress findet im Cyberspace statt, Tichy stellt fest, dass die perfekte Welt hinter den Hotelfenstern nur eine Simulation ist, als er mit seinem Kollegen Trottelreiner auf die Straße geht, merkt er, dass in den dort herrschenden Aufständen bewußtseinsverändernde Gase eingesetzt werden –, wechselt die Inszenierung mehr und mehr ins reale Schauspiel. Schließlich erwacht Tichy und erfährt, dass er in den Aufständen tötlich verwundet wurde, sein Hirn über Jahre eingefroren war und nun im Körper einer Frau weiterexistiert. Ab hier wird ganz klassisch Theater gespielt. Erst ganz zum Schluss, wenn auch das alles als Illusion entlarvt wird, kehrt der Abend wieder zurück in den animierten Livefilm.

Frank Genser, Uwe Schmieder, Friederike Tiefenbacher und herausragend Marlena Keil meistern den Wechsel zwischen den Rollen und das gleichzeitige technisch anspruchsvolle Spiel mit Puppen, Comicbildern und Kameras mit enormer Sicherheit und perfektem Timining. Die Inszenierung von Nils Voges spart nicht mit Einfällen, steuert Witz und die eine oder andere aktuelle Anspielung bei. Der Wechsel von Livefilm zu Schauspiel und zurück ist ein geschickter Kunstgriff, um durch die komplexe Story von Lem zu manövrieren. Und doch überwiegt zuletzt die Faszination für die technisch perfekte Fingerübung, eine echte Antwort auf die Frage, warum „Der futurologische Kongress“ von Stanislaw Lem auf die Theaterbühne gehört, gibt der Abend nicht. Dafür hätte es etwas mehr inszenatorischen Zugriff über die perfekte und zweifellos originelle Form hinaus gebraucht.

 

Premiere: 11. Juni 2017

Mit: Marlena Keil, Frank Genser, Uwe Schmieder, Friederike Tiefenbacher, T.D. Finck von Finckenstein
Regie: Nils Voges, sputnic - visual arts
Character Design und Illustration: Julia Zejn
Bühne: Malte Jehmlich, sputnic - visual arts
Kostüme: Vanessa Rust
Musik: T.D. Finck von Finckenstein
Licht: Sibylle Stuck
Ton: Gertfried Lammersdorf
Modell Design und Setbau: Artur Gerz
Engineering: Lucas Pleß
Storyboard: Karl Uhlenbrock, Julia Zejn, Nils Voges
Puppenbau: Silvia Dierkes
Illustration: Elena Minaeva, Carolyn Perez Hemphill
Animation-Plates-Bau: Sara Hartmann (Leitung), Elena Minaeva, Carolyn Perez Hemphill, Artur Gerz, Ronny Wollmann, Sebastian Peter Knipp, Nils Voges
Video: Jan Isaak Voges, Tobias Hoeft

0 Kommentare

Neuer Kommentar