Die aktuelle Kritik

Theater Marabu Bonn & Theater Agora St. Vith (B): "Heute: Kohlhaas"

Von Anna Pechtl

Mehrfach prämierte Produktion bedient sich ungeniert aus dem Schatz der Theaterunterhaltung.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Foto: Ursula Kaufmann

 

„Triff den Tronka“ – die kathartische Wirkung der Schießbude

Vorhang auf für Kleists Kohlhaas – heute beim Festival Favoriten 2012 in Dortmund! In der Koproduktion des belgischen Agora Theaters mit dem Bonner Theater Marabu künden die Schauspieler unter Trommelwirbel und begleitet von Jahrmarktakrobatik die berühmte Kleistsche Novelle als Spektakel über Macht, Ohnmacht und Widerstand an. Als weißgeschminkte Gaukler präsentieren sie zynisch und rasant die Leidens- und Rachegeschichte des braven Rosshändlers Kohlhaas. Das Unrecht, dass die Handlanger des Junkers von Tronka an Kohlhaas' Pferden verüben, wird von den Spielern auf drastische Weise herausgearbeitet. Sie malträtieren, Schmählieder singend, ein Schaukelpferd, reißen ihm das Fell ab und posieren in Siegerpose für ein Gruppenfoto. Das geht unter die Haut und weckt unangenehme aktuelle Assoziationen. Auch für Kohlhaas' aussichtslosen Kampf um Wiedergutmachung findet die Inszenierung unter der Regie von Claus Overkamp verstörende Bilder: während eine Schauspielerin aus den Bittbriefen des geprellten Rosshänders zitiert, lassen zwei gelangweilte Amtsdiener Seite um Seite feixend im Reißwolf verschwinden.

Geschickt und unaufhaltsam nimmt die Inszenierung  das in dieser Dortmunder Festivalvorstellung vorwiegend jugendliche Publikum mit auf den Weg der Empörung. Des Kohlhaas' Aufrufe zur Vergeltung werden von einem Racheengel mit E-Gitarre begleitet – das Stück baut hier auf verblüffende Weise die im Geiste verwandten Reden des Anarchisten Erich Mühsam in Kleists Originaltext ein. Eine groteske Aktion, in der mit einem  Baseballschläger wahllos auf über den Vorhang fliegende, „rebellierende“ Handpuppen eingedroschen wird, versinnbildlicht den aus Kohlhaas' Racheaktion entstandenen Gewaltexzess. Als danach passend zum Jahrmarktcharakter der Inszenierung eine Schießbude aufgebaut wird, man im Publikum Bälle verteilt und die Zuschauer auffordert, damit die Polizistenpuppen und ihre eitlen Herren zu attackieren, jauchzt das Publikum und schmettert die Bälle auf die Bühne.

Die 2012 entstandene, bereits mehrfach prämierte Produktion für Jugendliche und Erwachsene bedient sich ungeniert aus der Schatzkiste der Theaterunterhaltung: das Publikum wird durch wilde Verfolgungsjagden, einen angeblichen Kurzschluss, der die Bühne ins Dunkel taucht, Life-Musik und Schattentheater unterhaltsam in Atem gehalten, gleichzeitig jedoch mit beunruhigenden Fragen konfrontiert: Gegen welches Unrecht würde ich mich selbst zur Wehr setzen und mit welchen Mitteln? Wie schnell lasse ich mich manipulieren und aufwiegeln – oder beschwichtigen? Ohne Antworten, aber mit viel Stoff zum Nachdenken werden die Zuschauer durch ein Schlachtfeld von Handpuppen watend in den Abend entlassen.

Mit dieser bösen und aufrührerischen Bearbeitung des Kleistschen Stoffes führt Regisseur Claus Overkamp das künstlerische Erbe des 2009 verstorbenen Gründers und Leiters des Theaters Agora, Marcel Cremer, auf eigene, souveräne und bereichernde Art und Weise fort.

 

Heute: Kohlhaas

Theater Marabu, Bonn & Theater Agora, St. Vith (B)
Spiel: Roger Hilgers, Eno Krojanker, Annika Serong, Matthias Weiland, Marie-Joëlle Wolf
Musik: Gerd Oly
Kostüme: Emilie Cottam, Viola Streicher
Bühnenbild: Céline Leuchter
Regie: Claus Overkamp

 

www.theater-marabu.de

 

 

In Zusammenarbeit mit double - Magazin für Figuren-, Puppen- und Objekttheater

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