Suse Wächter und Manuel Muerte: „Jahrmarkt der Vernunft"
Weissagung mit Puppen
Zu Beginn dürfen die Zuschauer in Aktion treten. Ein ganzer Parcours an Orakelautomaten und Weissagungsmaschinen ist im Ballhaus Ost aufgebaut (Bühne: Konstanze Kümmel). Man zieht Gummibärchen am Gummibärchen-Orakel, und lässt sich anhand der Farben der kleinen Tierchen die Aussichten in Sachen Liebe, Geld und Beruf analysieren. Andere versuchen sich am Kaffeesatzorakel. Diese Maschine hält eine ganze Interpretationslegende für die Konfigurationen der Bohnenrückstände auf dem Becherboden bereit.
Stoisch lächelt gegenüber eine chinesische Weissagerin und beugt dabei - die halbmenschengroße Puppe wird von einem Motor angetrieben und verbirgt ihre Mechanik auch keineswegs - ihren Oberkörper vor und zurück. Zu ihren Füßen treten Menschen in vorgezeichnete Fußstapfen, mit dem Rücken zum "Brunnen der Weisheit" gewandt. Sie werfen dann über den Rücken eine Münze in den Brunnen. Weil dieser Erkenntnisbrunnen wesentlich kleiner ist als etwa die der Fontana di Trevi in Rom, wo ein gelungener Münzwurf über die Schulter die glückliche Rückkehr verheißt, ist hier das Treffen des kleinen Zimmerbrunnens wesentlich schwerer. Vor der glücklichen Erkenntnis stehen zahlreiche Wurfversuche - Wissen wollen ist eben Arbeit. Auf und nieder beugt sich dazu die Weissagerin aus dem Fernen Osten.
Sich treiben zu lassen durch den Parcours der Automaten und Installationen macht Freude. Weil darin eingebettet auch ein Erkenntnishütchenspiel mit dem Magier Manuel Muerte ist, wird große Neugier auf diesen Abend der Beschwörung alter Erkenntnistechniken geweckt. Muerte hat drei Nusschalenhälften, unter denen er virtuos mal eine, mal keine, mal gleich drei Kugeln versteckt. Bei ihm wird dieses leicht gaunerhafte Hütchenspiel in einen höheren narrativen Kontext überführt. Die Nusshälften symbolisierten Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, sagt er. Die Kugel hingegen sei unser Bewusstsein. Befindet sich unser Bewusstsein nun in der Vergangenheit? Oder der Zukunft? Oder der Gegenwart? Es wandert umher, na klar. Mit einer Schnelligkeit allerdings, die das zuschauende Bewusstsein, das das Verortungsspiel mitzumachen versucht, fast schon ins Delirieren bringt.
Das ist ein famoser Einstieg ins Thema. Was können wir wissen? Wie stellen wir es an? Und welche Techniken hatten unsere Vorfahren dafür? Leider wird diese Fragestellung dann, wenn Suse Wächters Puppen ins Spiel kommen, etwas aus den Augen verloren. Platon und Sokrates - ebenfalls Puppen in halber Menschengröße - werden von acht Armen geführt, wie sie auf dem Sofa lümmeln und sich an alte Symposiumszeiten erinnern. Das ist possierlich, wie sie über das Denken im Liegen sinnieren, wie sie in voller Lust am Denken auch ihr Gemächt präsentieren - Griechen trugen keine Unterwäsche, erinnert Platon vergnügt. Ein wenig mehr von den Resultaten ihrer Denkversuche hätte dem Abend aber gut getan.
Gleiches gilt für Freud, der ebenfalls an Kopf, Körper und Gliedern animiert, auf der Philosophencouch Platz nimmt. Wächter mimt vortrefflich professorales Gelaber im Wiener Stil, ein paar konkrete Erkenntnishappen über das Vermessen der Psyche fehlen aber.
Immerhin springen zwei andere Groß-Exemplare aus dem Wächterschen Figuren-Arsenal in die Bresche. Gott, ein weißbärtiger Zauselgreis mit Silberteller als Heiligenschein, führt den Zufall in die Schöpfungsgeschichte ein. Ja, er würfelt tatsächlich mit Zuschauern. Er hält den Becher, nimmt die Würfel und findet Mitspieler. Die gewürfelte Augenzahl indes errät Muerte mit Hilfe des sogenannten Urschleimorakels - einer grünlichen, sehr zähflüssigen Substanz, die auf einer Tafel mit den Ziffern 1 - 6 ihren Weg sucht. Muertes Trefferquote liegt am Premierenabend zwar nicht bei 100%, aber deutlich über der reinen Zufallquote. Der natürlich auch von Gott geschaffene Urschleim ist schlauer als der "Macher" selbst, der den Fall der Würfel eben nicht voraussagen kann und den Zufall aus Langeweile-Beseitigungsgründen ins Spiel brachte. Das ist eine schöne Pointe.
Pythia hingegen, das legendäre Weissagungsmedium des Tempels von Delphi, bezaubert vor allem über ihre Physis und die sehr souveräne Animation durch Wächter. Pythia erscheint als alte Frau aus dem 18. Jahrhundert, mit altertümlicher, schon recht zerschlissener Kleidung, und hat als Kopf einen Totenschädel. Der wird mit allerlei Rauch benebelt, er raucht auch selbst - das Rauchen von Altfrauenpuppen scheint in Mode zu kommen, siehe die "Gräfin" von Stefanie Oberhoff. Und dann, man ist verblüfft, errät diese Pythia tatsächlich den auf Papier notierten Wunsch eines Zuschauers und prophezeit ihm, dass er in Erfüllung gehe. Das ist schon feinere Illusions- und Motivationskunst.
Ein bisschen mehr Substanz in der Präsentation der Suche nach Prognose-Techniken des Menschen - der Wetterbericht ist so etwas, wer an der Börse arbeitet, glaubt auch oft, den richtigen Algorithmus gefundnen zu haben, Politker verlassen sich auf ihren Bauch als Einflüsterungsinstanz für Umfragenergebnisse, ihr klassisches Machtorakel also - hätte den "Jahrmarkt der Vernunft" zu einem grandiosen Abend machen können. So bleibt er immerhin ein vergnüglicher. Und vor allem bezaubert die leichte Hand, mit der Wächter ihre Puppen in der Welt des Magiers Muerte und der beiden Performer Patrick Folkerts und Veronika Thieme sowie des Schlagzeugers Chris Imler bewegt. Puppen, Menschen und Objekte bilden hier ein Universum - eine vorzügliche Integrationsleistung.
Premiere: 26. Oktober 2017 (Ballhaus Ost Berlin)
mit: Patrick Folkerts, Manuel Muerte, Veronika Thieme, Suse Wächter
Konzept: Suse Wächter, Manuel Muerte
Bühne, Raum: Constanze Kümmel
Musik: Chris Imler
Produktionsleitung: Olaf Nachtwey, Johanna J. Thomas
Foto: Paul Milmeister
weitere Vorstellungen: 9.-12. November 2017 Kampnagel Hamburg, 2. und 3. Febraur 2018 FFT Düssseldorf, 15.-18. Februar 2018 Ballhaus Ost Berlin.