Die aktuelle Kritik

Eva Meyer-Keller: "Living Matters"

Von Max Florian Kühlem

Auf PACT Zollverein wird Zellbiologie zu Material-Theater

Man muss Geduld haben in dieser Inszenierung – und das ist ja vielleicht schon die beste Analogie, die man mit einem performativen Bühnengeschehen für das Leben finden kann. Lange, wirklich lange Zeit fragt man sich als Zuschauer in Eva Meyer-Kellers Performance „Living Matters“, die in PACT Zollverein Essen Premiere feierte: Was machen die da? Ergibt das überhaupt Sinn? Bis im wahrsten Sinne des Wortes ein Licht aufgeht.

Vier Performerinnen geben sich merkwürdigen Versuchsaufbauten hin, kriechen auf dem Rücken liegend über den Boden, operieren mit Flüssigkeiten, Petrischalen, Pipetten, Pinzetten, Mikroskopen – aber auch Kameras und Scheinwerfern. Vergrößerte Bilder von auseinander gepflückten Brombeeren, von Seifenlaugen, Kontaktlinsen- und anderen Flüssigkeiten, die ineinander oder aneinander vorbei laufen erscheinen an den Wänden.

„Living Matters“ ist der zweite Abend einer Trilogie, in der Eva Meyer-Keller den Dialog mit verschiedenen Bereichen der Naturwissenschaften aufnehmen will. Diesmal geht es um die Zellbiologie, in deren Kern der Prozess der Mitose steht, also der Teilung des Zellkerns. Unser Leben basiert auf dieser Zellteilung und –erneuerung und solange dieser Prozess geregelt abläuft ist alles in Ordnung. Andernfalls entsteht chaotisches Wachstum, entstehen Wucherungen, bösartige Tumore.

Mit einem starken Bild gegen Anfang dieser installativen Performance zeigen die Performerinnen die Schönheit des Chaos: Sie legen halbtransparente Folien aus, die sie mit leichten Handbewegungen zum Schwingen bringen. Wellen aus Licht und Schatten gleißen darüber – eine Regel ist in diesen Bewegungen nicht zu erkennen. Die darauf folgende Laborsituation scheint vor allem Materialerkundung zu sein und wirkt kaum choreographiert. Es wirkt, als wunderten sich die vier Spielerinnen selbst über die Eigenschaften der zusammengekippten Stoffe, als führten sie darüber manchmal unverständliche Privatgespräche.

Die Textfetzen, die sie ihrem Publikum über Mikrofon oder per eingespielter Schrift geben, sind Wortspiele mit den Wörtern „Life“ und „Cell“: „Life is. Life ends. Life is living with loose ends.“ Auf den Rängen versinkt man in sich selbst und die Hoffnung: Vielleicht kommt ja noch was. Und dann kommt tatsächlich dieses eindrucksvolle Bild, in dem alle vier Performerinnen vor einem Geschwulst aus unförmigen aufgeblasenen Ballons (Ist das der Krebs?) mit Föhnen ringförmige Folien in der Luft, in der Schwebe zu halten versuchen. Durch einen speziellen Beleuchtungstrick sieht dieser Tanz der Folien plötzlich aus wie Zellwachstum unter dem Mikroskop, wie die Essenz des Lebens, der Kampf des Lebens.

Doch irgendwann scheint dieser Kampf verloren. Die Föhne gehen aus, die Folien fallen zu Boden. Doch verloren ist nichts: Eva Meyer-Keller ist es tatsächlich gelungen, eine performative Entsprechung für Erkenntnisse aus der Naturwissenschaft zu finden, ein Aha-Erlebnis zu schaffen. Und das Bild, mit dem sie das Publikum entlässt, ist ein anderes: Das Labor wird wieder aufgebaut, anders und noch größer. Nicht nur das Leben geht weiter, auch der Wunsch nach Erkenntnis.

Premiere: 15. November, PACT Zollverein Essen

Foto: Ayala Gazit

Konzept & Performance: Eva Meyer-Keller
Ko-Kreation & Performance: Tamara Saphir, Annegret Schalke, Agata Siniarska
Musik: Rico Lee
Dramaturgische Zusammenarbeit: Constanze Schellow
Assistenz: Emilia Schlosser 
Recherchepartnerin:
Ilya Noé
Kostüm & Requisite: Sara Wendt
Wissenschaftliche Forschung: Simone Reber und Forschungsteam
Licht: Annegret Schalke
Technische Leitung: Björn Stegmann
Produktion: Ann-Christin Görtz

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