Die aktuelle Kritik

Puppentheater Halle: „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“

von Tobias Prüwer

In Langsamkeit, Katharsis und Begehren vermischen sich kunstvoll Puppen und Spieler.

 

Viskoser Realismus

Dieser Roman stellt, gelinde gesagt, eine Zumutung dar. „Die Liebe in den Zeiten der Cholera“ von Gabriel García Márquez ist viskoser Realismus, den das Puppentheater Halle in eine textnahe Figurentheaterform gießt. Auch dieses beginnt folgerichtig als Zumutung, als kunstvoll gespielte Zähflüssigkeit, die den geronnen Wunden eines ganzen Lebens gleichkommt.

Der 81-jährige Dr. Juvenal Urbino stürzt beim Versuch, einen sprechenden Papagei einzufangen, von der Leiter und stirbt. Nach der Totenfeier erscheint Florentino Ariza bei der nun Witwe gewordenen Fermina Daza, erklärt, dass er länger als ein halbes Jahrhundert auf diesen Moment gewartet hat und gesteht ihr seine Liebe. Sie weist ihn erbost ab. Danach setzt wie in einem überlangen Prolog die Rückblende auf ein kurzes Techtelmechtel zwischen Fermina und Florentino und danach auf 50 Jahre Berg-und-Tal-Bahnfahrt einer Ehe ein. Das macht zwei Drittel des Romans aus, auch in Halle hält man sich an dieses Maß.

Der offene Bühnenraum wird hinten begrenzt von einer Art spanischen Wand, deren Lamellenkonstruktion an landestypische Fensterläden erinnert. Links und rechts ist ein Oval ausgeschnitten, in denen zu Beginn emblematisch die beiden Hauptfiguren sitzen. Später dienen sie immer wieder als Aktionsebenen. In die freie Fläche davor werden zum Spielen verschiedene Objekte, hauptsächlich Sitzmöbel, hineingerollt. Auch in Puppengestaltung wie -führung hält man sich an den Realismus. Bis zu vier Spieler führen eine der Gliederpuppen. Minutiös wird so auch die kleinste Bewegung der Figuren inszeniert, in Blick, in Neigen des Kopfes, ein Fußwippen.

Auf das hoch konzentrierte Spiel müssen sich allerdings die Zuschauer auch stark konzentrieren. Denn zwischen den oft minimalen Gesten passiert nicht viel. Der Textanteil ist extrem groß, so dass manche Szene wie Sprechtheater ausfällt und die sprechenden Spieler mit ihren Körpern die Bühnenpräsenz vor den Puppen dominieren. Sprache ist hier das Haupttransportmittel der Handlung, die vom zarten, genauen Figurenspiel nur unterstrichen, illustriert wird. Komische Momente lockern das etwas auf, aber nur etwas. Auch eingesetzte Videoanimation, die an die Bühnenrückwand projiziert wird, schafft straffende wie ästhetisch ansehnliche Effekte. Aber auch sie findet sich nicht konsequent genug eingesetzt – wenn man die Inszenierung vom Standpunkt Drive und Tempo her bewertet.

Denn dass diese gewisse Langatmigkeit nicht nur der Dramaturgie von Márquez folgt, sondern auch für den Abend stimmig ist, zeigt sich nach der Pause. Florentino und Fermina nähern sich nun einander wieder an. Sie überwirft sich mit ihren Kindern, bevor beide auf einer Flussschiffreise in Zweisamkeit am Horizont entschwinden. Fast wirkt dieser Part wie ein flottes Nachspiel. So schwappt die neu gewonnene Leichtigkeit Ferminas aber direkt ins Publikum. Unmittelbar überträgt sich ihre wiederentdeckte Jugendlichkeit, schaut man dem neckischen Treiben der Hochbetagten fasziniert zu. Schattenspiel kommt hier als zusätzliches darstellerisches Mittel hinzu. Es wird humoresk, wenn der Kapitän eine Schiffsbesichtung macht und ins Publikum zeigend murmelt „Oberdeck, Klüver, Pinne“. Da fliegt plötzlich die Tür auf und einige Spieler erscheinen als Passagiere, nur um kurz danach vor der Cholerawarnung wieder aus dem Saal zu flitzen. Der plötzliche Schwung der Inszenierung wirkt entlastend, kathartisch und ist ein schlagartiger Stimmungsaufheller.

Als herausragend zu loben ist das komplette Ensemble. Das Hallenser Puppentheater hat sowieso reichliche Erfahrung in der Literaturtheateradaption, man denke nur an den kolossalen Durchsteher „Die Buddenbrooks“. Wie sie aber hier die Stimmung der Vorlage auf die Bühne übertragen, ist meisterlich; wenn man der Entscheidung für die Textnähe folgt. Und doch durchbricht die Inszenierung in vielen Momenten auch das bloße Nachspielen, wenn sich die eigene Qualität der Figurenkunst Bahn bricht. Das sind die Szenen, in denen die Figuren die Spielerkörper bespielen, was nicht nur ansehnlicher kniff ist, sondern auch die theoretischen Fragen nach der Rolle, der Puppe, dem Schauspieler stellen. Der Arzt hört nicht etwa die Fermina-Puppe ab, sondern die sie führende Franziska Rattay, die extra den Rücken dazu freimacht. Später turnt der Doktor zwischen den Beinen einer stehenden Patientin herum, die wiederum von einer Spielerin gegeben wird.

Überhaupt mischen sich in vielen libidinösen Szenen die Leiber von Puppen und Spielern, entsteht nicht nur Figurentheatererotik, sondern erotisches Figurentheater. So bekommt Marquez’ Soff, seine Frage nach dem Leben, doch noch einen eigenen Weiterdreh: Wo, wie und worin lebt und begehrt das Leben auf der Bühne wie im Leben?

 

Premiere: 15. Oktober 2015

0 Kommentare

Neuer Kommentar