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Theater der Nacht, Northeim: „Wilde Reise durch die Nacht“

Von Astrid Meier

Das Theater der Nacht zeigt mit Walter Moers „Wilde Reise durch die Nacht“ ein anspruchsvolles Stationendrama, in dem sich eine Vielzahl fantastischer Kreaturen mit den großen Fragen unseres Daseins beschäftigen: Will ich leben? Wenn ja, um welchen Preis? Und wer will ich dabei sein?

Bereits das Theatergebäude lädt zum Träumen und Entdecken seltsamer Wesen ein. Beim Einlass erstrahlt ein Sternenhimmel im Saal, der das ganze Stück begleitet und gut mit dem Bühnenbild korrespondiert: ein Schlafzimmer – gerahmt von weißem Tuch, schlicht und doch für effektvolle Umbauten konzipiert. Unter der Bettdecke beginnt der 12-jährige Gustave zu strampeln und sich eine ganze Welt zu erträumen. Plötzlich befindet sich das Kind gemeinsam mit einem Puppen-Alter-Ego (einer ca. 40 cm großen Holzpuppe, die der Darstellerin Kyra A. in Kostüm und Frisur gleicht) auf hoher See und erleidet Schiffbruch. Da erscheint der Tod mit seiner wahnsinnigen Schwester Dementia. Das skurril-charmante Geschwisterpaar entscheidet via Schnick, Schnack, Schnuck, wer die Seele des sterbenden Jungen für sich haben darf. Doch Dementia lässt ihren Bruder nicht einfach so gewinnen: Sie verrät Gustave, dass er weiterleben darf, wenn es ihm gelingt, noch in dieser Nacht sechs Aufgaben zu lösen.

Auch wenn der Junge im Laufe seiner Reise immer wieder am Ende seiner Kräfte zu sein scheint, entscheidet er sich jedes Mal für das Leben. Er will weiterkämpfen, um einmal ein großer Maler zu werden. Also nimmt Gustave die Aufgaben an: Zuerst soll er einen Wald voller Gespenster durchqueren und sich dabei möglichst auffällig verhalten. Als Zweites gilt es die Namen von drei Riesen zu erraten. Drittens soll Gustave dem schrecklichsten aller Ungeheuer einen Zahn ziehen, viertens sich selbst begegnen, fünftens eine Jungfrau aus den Klauen eines Drachens befreien und zu guter Letzt den Tod auf dem Mond treffen, um seine letzte Aufgabe dort in Empfang zu nehmen.

"Wilde Reise durch die Nacht" © Theater der Nacht

Neben den Projektionen der Bilder von Gustave Doré, die bereits Walter Moers für seine Romanvorlage nutze, und dem fast durchgängigen Klangteppich (u. a. erzeugt durch eine singende Säge), ist die Inszenierung von Bernhard Ohnesorge insbesondere durch die Gestaltung der vielen fantastischen Wesen ein gelungenes Werk. Gespielt werden die Fabelwesen von Ruth und Heiko Brockhausen, die auch den Tod und seine Schwester verkörpern und diese damit indirekt als allgegenwärtig charakterisieren. Bezeichnen sich die anderen Wesen als „Diener des Todes“, schimmern also der Tod und Dementia in ihrem schwarzen bzw. weißen Grundkostüm als die heimlichen Fädenzieher hindurch. Während diese beiden allein durch das vertraute Zusammenspiel des Schauspielerduos funktionieren, werden die anderen Fabelwesen durch eine Vielzahl unterschiedlichster Puppen- und Maskenmodelle zum Leben erweckt. Das Pferd Pancho erhält in seiner Funktion als freundlicher Wegbegleiter eine Maske, die die Spielerin darunter noch gut erkennen lässt. Doch je unheimlicher die Figuren werden, desto abstrakter erscheint ihre Gestalt. Das Ungeheuer mit blickdichter Schweinemaske und Flügeln, dem mit tollem Überraschungseffekt ein übergroßer Zahn gezogen wird, entpuppt sich als die personifizierte Zeit. Jenes Ungeheuer, das aus Liebe tötet, erscheint wiederum nur als Schatten eines riesigen Gebisses. Die drei Riesen bestehen aus an Tüchern befestigten weißen Köpfen, die eine Symbiose mit Gustaves Bettlaken einzugehen scheinen.

"Wilde Reise durch die Nacht" © Theater der Nacht

Das Zusammenspiel zwischen Gustave und seinem Puppen-Alter-Ego schwankt zwischen einer Verkörperung, in der die Puppe auch zum alleinigen Ansprechpartner seiner Umwelt wird, und der Erinnerung daran, dass der Mensch Gustave nur das Abenteuer erträumt. Denn häufig wird die Puppe beiseitegelegt und teilweise sogar vom Tod wie leblos weggeworfen. Doch auch in den reinen Schauspielszenen nutzt das Ensemble Walter Moers fantastische Sprache und den dabei doch trockenen Humor, um mit Spielfreude die Geschichte voranzutreiben. Die Highlights des Stück bleiben jedoch die Momente, in denen die zwei Gustaves gemeinsam in die fantasievollen Bilder der Traumwelt eintauchen, z. B. als beide nach der Pause plötzlich Fliegermützen aufhaben, um mit dem Greif anmutig durch die Luft zu gleiten, oder wenn die Spielerin ihre Puppe – an einer langen Drachentöter-Lanze befestigt – Freudenloopings machen lässt.

So beweist das Theater der Nacht mit seiner Version von „Wilde Reise durch die Nacht“ eine besondere Kunstfertigkeit, mit der es mystische Charaktere erschaffen und spielerisch zum Leben erwecken kann. Gerade vor dem Hintergrund der Moers‘schen Philosophie und der Entscheidung, alles als Traum zu inszenieren, kommt die Methodenvielfalt im Bau und Spiel der Figuren gut zur Geltung. Alles, was das Publikum sieht, darf fantastisch oder gar abstrus sein. Denn es ist der Fantasie eines Kindes entsprungen und nur eine „raumzeitkontinuierliche Möglichkeitsprojektion“ – so beschreibt das Monster Zeit auch die Konfrontation mit Gustaves 92 Jahre alten Ich. Am Ende entpuppt sich sogar der allgegenwärtige Tod als relativ: Gustave scheitert an der letzten Aufgabe, ein Porträt von ihm zu zeichnen, und der Tod selbst scheitert an seinem heimlichen Suizid-Vorhaben, weil er dazu einen Schneidezahn und keinen Backenzahn des Monsters benötigt hätte. So lässt er Gustave trotzdem am Leben. Mit den Flügeln der Zeit fliegt er zurück nach Hause sowie weiter ins Erwachsenwerden mit seinen vielen Aufgaben, Begegnungen und den immer wiederkehrenden Fragen: Will ich leben? Wenn ja, um welchen Preis? Und wer will dabei ich sein?

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„Wilde Reise durch die Nacht“, Figurentheater nach Walter Moers und Gustave Doré

Premiere: 28.12.22 im Theater der Nacht, Northeim

Weitere Aufführungen: 05.02. in der Göttinger Waldorfschule/ 10.+11.03. sowie 26.+27.05. im Theater der Nacht

Regie: Bernhard Ohnesorge

Bühnenbild/ Ausstattung: Heiko Brockhausen, Thomas Rump

Spieldauer: 120 Minuten inkl. Pause

Fotos: © Theater der Nacht

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