Die aktuelle Kritik

Westflügel Leipzig: "Figure it out"

Von Tom Mustroph

Kleine Formate und große Formate, Erkundungsreisen in Keller und Sportpferdetransporter, Gruppengespräche beim Essen und Blind Dates per Telefon – das Festival „Figure it out“ am Westflügel Leipzig bot eine große Palette an Begegnungsmöglichkeiten mit Figuren- und Objekttheater. Es handelte sich dabei um ein nachhaltig kuratiertes Festival mit Künstler*innen, die meist durch Residenzen und langfristige Arbeitsbeziehungen mit dem Westflügel verbunden sind.

Das Land lugte in die Stadt, in die westlichen Ausläufer Leipzigs: Eine große Kuhglocke läutete den Beginn jeder neuen Festivalvorstellung im früheren Tanzlokal im Westflügel an. Passend dazu wurde das Landstück „Cowpats and Pipedreams“ von flunker produktionen gespielt, in dem eine Milchkuh in Lebensgröße die Bühne dominiert. In ihrem großen Schatten trifft eine die Natur eher nicht kennende, sie dafür umso mehr liebende Stadtbewohnerin auf einen schwer ackernden Bauernburschen. Beide Figuren, verkörpert von Claudia Engel und Matthias Ludwig, sind sehr überzogen dargestellt; etwas weniger ausgestellte Dümmlichkeit könnte der Bauernfigur besser stehen. Aber die großen Objekte – neben der mitunter zum Sprechen animierten Kuh noch ein Lastwagen, der zum Haus wird – entfalten einen skurrilen Reiz.

"Cowpats and Pipedreams" © flunker produktionen

Kreieren von Gemeinschaftssinn

Die Landkomponente mit der Kuhglocke gehörte aber auch zum Einleitungsprogramm der anderen Aufführungen. Besucher*innen versammelten sich beim Klingeling brav vor der Treppe. Auf Deutsch und Englisch wurde ins Programm eingeführt und schnell fühlte man sich als Teil einer Gemeinschaft. Das war ein geschickter Zug des Organisatorinnenteams aus Dana Ersing und Muriel Zibulla (Westflügel, Kuratierung Showcase), Jessica Hölzl und Julia Lehmann (Konferenz- und Diskursprogramm). Denn die freundliche Ansprache kreierte sofort eine Art von Zusammengehörigkeit, die sich bei Festivals gewöhnlich erst bei der gemeinsam erlebten Erschöpfung nach mehrtägigem Dauergucken einstellt. Hier waren die zarten Verbindungsfäden gemeinsamer Interessen sofort spürbar. Und im Programm setzten sie sich fort.

Der israelische Performer Ari Teperberg etwa verstärkte in seiner Produktion „And My Heart Almost Stood Still“ diese schon im Treppenhaus angeregte Sensibilität noch. Als Solist auf der Bühne machte er sein Gesicht zur Landschaft. Er kicherte und lachte. Stellenweise war nicht zu entscheiden, ob noch fröhliche Emotionen Auslöser der Gesichtsmuskelakrobatik waren oder ob eine Transformation in Traurigkeit und Erschrecken zu beobachten war. Teperberg versuchte zu erkunden, wie eine taube Person versucht, das Spiel von Beethovens 9. Sinfonie – bekanntlich geschrieben von einem selbst ertaubenden Tonsetzer – auf- und wahrzunehmen. Teperbergs Ausgangsimpuls stammt von einem auf Facebook gefundenen Brief der blinden und tauben Autorin Helen Keller, den sie 1924 für das New York Symphony Orchestra verfasste und in dem sie beschrieb, wie sie anhand der Vibrationen des Lautsprechers ihres Radioapparats eben dieses Konzert ‚hörte‘.

Sensibilisierung von Wahrnehmung

Teperberg entwickelt daraus kein biografisches Stück. Eher erkundet er, und mit ihm sein Publikum, welch große Folgen auch kleine Wahrnehmungsimpulse haben können. Man sieht ihm zu, wie ein zweiter Performer ihm Worte ins Ohr bläst, wie diese durch den Resonanzraum Schädel verstärkt werden. Ein Menschenkörper wird da zum von außen gespielten Klanginstrument. Am Ende ertappt man sich selbst dabei, wie man selbstvergessen einen roten Luftballon aufbläst, so wie die Nachbar*innen links und rechts, und dabei spürt, wie der Inhalt der eigenen Lunge in das immer größer werdende, sich ausdehnende Gummigefäß strömt.

"And My Heart Almost Stood Still" © Efrat Mazor

So recht weiß man nicht, was mit einem bei dieser Performance geschehen ist. Man schaut, hört und spürt nur wacher, was um einen herum geschieht. Und man fühlt sich mit den anderen, aus deren versonnen blitzenden Augen man sich ähnliche Erfahrungen herauszulesen wagt, auf eine sanfte Art verbunden.

Ein Spiel mit Verbindungen ist auch „Dust“, eine Zusammenarbeit von Teperberg und seiner ebenfalls aus Israel stammenden Kollegin Inbal Yomtovian – beide arbeiten unter dem Label „Golden Delicious“ zusammen – und der Gruppe Wilde & Vogel, die den Westflügel mitgegründet hat. In „Dust“ geht es um Erinnerungsspuren an die Shoah und den 2. Weltkrieg, und wie diese Erinnerungsspuren die jeweiligen Familien in Israel und Deutschland spielten. Während die Erinnerungen selbst durchaus konträr sind, kreieren die Spieler*innen Begegnungsräume und Annäherungsformen füreinander. So spielen Teperberg und Charlotte Wilde ein Geigenduo. Michael Vogel nimmt das Material Plastik, das durch Tüten und Tupperdosen von Yomtovian eingeführt wurde und kreiert daraus luftige und transparente Figuren. Und eine Vereinigung aller entsteht, wenn der Faden, über den eine Drahtfigur Vogels von einer Position hoch oben an der Wand zur Bühnenmitte nach unten gleitet, durch die Hände aller Spieler*innen geht.

Schwarze Komödie mit E-Gitarre und Tierfiguren

In völligem Kontrast zu den zarten Narrationsgeflechten von „Dust“ ist der „Freischütz“ von der zweiten Leipziger Compagnie Lehmann & Wenzel. Dem wilden Stück um eine Silberkugelgießerdynastie im dunklen Wald sieht man die zehn Jahre nicht an, die seit der Premiere vergangen sind. Munter zupft jedenfalls Stefan Wenzel an seiner E-Gitarre, schichtet Loop über Loop zu einem imposanten Klanggebäude und lässt vor diesem akustischen Hintergrund gemeinsam mit Partnerin Samira Wenzel die einen Tiere die anderen fressen und vor allem den Jäger wild massakrieren. Die schwarze Komödie zur romantischen Oper von Carl Maria von Weber entzückt. Das Schlussbild mit im Bühnennebel selbst bewegter, sich entfernender Plattform hat magische Qualitäten. Und dass Lehmann & Wenzel bei diesem internationalen Festival die englischsprachige Variante aufführten, erhöhte den Reiz nur, sei es durch komische Pidginvarianten der Sprache oder gar einen Einschub sächsisch gefärbten Englischs.

"Der Freischütz" © Dana Ersing

Bei den kleineren Formaten für ein Publikum von einer bis sechs Personen entzückte vor allem Florian Feisels „Viva Plastika“. In einem alten Lastwagen, der der Aufschrift nach einst dem Transport von Sportpferden diente, erzählt eine Figur, die sich als Assistent ihres Meisters ausgibt, die wundersame Geschichte einer lädierten Bauchrednerpuppe aus den 1960er-Jahren, die dank der Mithilfe des Publikums weniger lädiert zu voller Schönheit wiedererblühen soll. Der Sinn für Feinmotorik wird hier stimuliert – ein schöner Kontrapunkt zum Sensibilisierungsprozess der Wahrnehmungssinne, die das größer dimensionierte Publikum in Teperbergs „And My Heart Stood Almost Still“ erfahren durfte.

In sogenannten Table Talks konnte das Publikum mit den Künstler*innen(gruppen) des Tages bei einem Abendessen ins Gespräch kommen

Kluges Konzept aus Showcase und Begegnungsformaten

Insgesamt zwölf Produktionen wurden im Westflügel vorgestellt. Hinzu kam ein Satellitenprogramm junger Figurenspieler*innen und Performer*innen in einem Atelierhaus im Leipziger Osten. Vor allem aber verbanden die Begegnungsformate – seien es Podiumsdiskussionen am Morgen, gemeinsame Essen am Abend oder per Zufallsprinzip zusammengestellte Kurztelefonate unmittelbar nach den Abendvorstellungen – Publikum und Künstler*innen. Es entstand eine Festivalatmosphäre, die über die sonst übliche Hatz von Vorstellung zu Vorstellung hinausging. Und es zeigte sich auch, dass ein Festival nicht mit Welturaufführungen bestückt sein muss, sondern sich – wie im Falle des „Freischütz“ – sogar trauen kann, Produktionen, die vor zehn Jahren am gleichen Ort (!) herausgekommen sind, ganz selbstverständlich ins Hauptprogramm zu nehmen. Sollten irgendwann Nachhaltigkeitspreise in der darstellenden Kunst vergeben werden: „Figure It Out“ wäre ein sehr geeigneter Kandidat dafür.

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FIGURE IT OUT. Internationales Figurentheatertreffen + Showcase

8.-12.6.2022

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