Die aktuelle Kritik

Puppentheater Gera: "Die große Reise"

Von Tatjana Böhme-Mehner

Jorge Semprúns Roman ist packend, souverän und poetisch in Szene gesetzt.

 

Fotos: Stephan Walzl

 

Bahnfahrt in die Vergangenheit

Ein Schlag. Plötzliche Dunkelheit. Die Einstiegsklappen sind geschlossen. Nichts für Menschen mit Platzangst. Der Klang vermittelt das Gefühl, dass der Eisenbahnwagen anrollt. „Geil!“, flüstert eine Schülerin der anderen zu. Das wohlige Nervenkitzelgefühl von Geisterbahn wird sich in 70 spektakulären Theaterminuten legen. Wobei es Horror ist, den sie erleben, der Horror an sich, doch in einer poetischen Übersetzung, die die Sonderschüler in der besuchten Vorstellung ebenso packen muss wie Intellektuelle, wie Menschen, die wegen Jorge Semprún kamen, dessen Roman „Die große Reise“ für dieses außerordentliche Projekt des Puppentheaterensembles von Theater&Philharmonie Thüringen adaptiert wurde. Souverän und poetisch wie der Roman arbeitet dieses Theater NS-Geschichte auf, die Erfahrung der Fahrt in einem Gefangenentransport von Frankreich nach Buchenwald und des Überlebens im Konzentrationslager.

Packend und aus sich heraus verständlich erzählen Marcella von Jan, Sabine Schramm, Lys Schubert und Lutz Großmann von einer Reise, die an ihrem Ende nicht zu Ende ist. Rückblenden und Ausblicke kommentieren die Situation, ordnen ein. Sensibel geht die Inszenierung von Stefan Wey mit einer Geschichte um, die für die Horrorfilm-geschulten Zuschauer in ihren Dimensionen dennoch ungeheuerlich ist.

Bühnenbildner Jörg Schuchardt baut einen Eisenbahnwagon, der dem Zuschauer in seiner Enge zwar nur ansatzweise, aber doch fürs heutige Bewusstsein schon bemerkenswert unbequem, das Gefühl vermittelt, dabei zu sein im Viehwagon, mit Hunderten von Deportierten, darunter der Erzähler und der Junge aus Semur – zwei Schicksalsentwürfe. Eine Reise, konkret und doch assoziationsreich führt die Gefangenen durch das besetzte Frankreich und durch das paradox beschauliche Deutschland – idyllische Landschaften und Menschen auf Bahnsteigen, befangen in alltäglichen Verrichtungen, scheinen der Widerspruch an sich zu sein zur Existenz im Wagon, in dem still gestorben und laut gelitten wird, in dem Exkremente zum Leben gehören, und die Angst eine fürchterliche Nähe zur Folge hat. Dezent wird Figurenspiel eingebettet in das assoziative und multimediale Menschentheater – erschreckend, immer voll starker Symbole und immer aus sich heraus begreiflich. Die Selbstverständlichkeit des Schreckens als Gegenpol deutscher Spießigkeit wirft die Frage auf, ob man beim Aufwachsen unter Nazis etwas anderes werden kann als auch ein Nazi, und jene nach dem Vergessen danach.

Die Unmöglichkeit die Geschichte aufzuarbeiten, für die dieser Gefangenentransport steht, ist genauso das Thema dieses Theaters  wie die Geschichte selbst – auch nach Jahrzehnten noch schmerzlich und schockierend. Es tut gut, wenn sich der Wagon am Ende wieder öffnet. Es ist beruhigend, hinaus stolpern zu können aus dem Wagon ins Licht. Ein wichtiges Theaterprojekt, mit dessen Erfahrung man Schüler und Lehrer nicht allein lässt. Viele von ihnen scheinen den Theaterpädagogen zu brauchen, der bereit steht nach diesem Vormittag voll ästhetisch tiefschürfender Erfahrung.

 

Premiere: 4. Oktober 2014

 

Theater&Philhamonie Thüringen/Puppentheater, Gera, Die große Reise

Eine theatrale Auseinandersetzung mit dem Roman von Jorge Semprún
Inszenierung: Stefan Wey
Bühne, Kostüme: Jörg Schuchardt
Puppenbau: Axel Jirsch
Musik: Günter Schimm
Dramaturgie: Maria Schubarth

www.tpthueringen.de

zum Eintrag des Theaters auf dieser Seite

 

 

In Zusammenarbeit mit double - Magazin für Figuren-, Puppen- und Objekttheater

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