Puppentheater Halle: "Rettet die Sockel! – Save the Pedestals!"
Das Publikum füllt allmählich die Ränge des an diesem Premierenabend ausverkauften Dock 2 des Puppentheater Halle. Lediglich drei schwarz gekleidete Gestalten mit Schirmmützen bleiben ohne Sitzplatz, suchen auf der kargen Bühne Schutz und verstecken sich schließlich zwischen den seitlich aufgestellten Garderobenständern. Gleichmäßiges Atmen dröhnt aus den Lautsprechern. Plötzlich kommt Bewegung ins Bild. Das mit glänzendem Stoff verhüllte riesige Etwas beginnt, sich zu regen.1 Hervor treten zwei mächtige Füße, eine übergroße Hand bahnt sich den Weg ins Freie. Aus dem Monument schlüpft eine gigantische Puppenapparatur und bewegt sich behäbig über die schwach beleuchtete Bühne.
Geführt wird sie von einem in der Puppe befindlichen Spieler, dessen Füße in riesigen farbigen Boots stecken – „Mit Stahlkappen!“ Die Puppenhände führt er an langen Metallstäben, der detailliert ausgearbeitete, anthropomorphe Kopf ist mit geschichtsdurchwirkten bunten Stoffen2 bespannt und wird über die Kopfbewegungen des Spielers geführt. Die zweite Puppe wird zweifach gesteuert: Eine Spielerin in der Apparatur führt Füße und Kopf der Puppe über die eigenen Körperbewegungen, die zweite bewegt über eine Kurbelwelle die Arme der Gigantin.
Zeichen und Verweise, Symbole, Farben und Formen klaffen vor einem nicht zu bewältigenden Abgrund an Geschichte. Ivan Vladislavićs Erzählung ‚Rettet die Sockel – Save the Pedestals‘ stand Pate für die Stückerarbeitung, welche am Puppentheater Halle in Kooperation mit der Handspring Puppet Company Cape Town unter der Regie von Robyn Orlin entwickelt wurde. „Zwischen Denkmalschutz und -sturz liegt das Spektrum der Reaktionen“3, die sich in unterschiedlichen Episoden zwischen Wachen und Träumen in 75 dichten Minuten entspinnen.
Trip auf der Miniatureisenbahn
Ausgelöst durch eine hitzige Diskussion über Ruhm und Erfolg machen sich Comrade A und Ma Z, so die Spitznamen der Puppen, und ihre fünf Spieler_innen auf der Suche nach dem Monumentalen. Eine rasante Reisegeschichte mit wiederkehrenden Ungleichen nimmt ihren Lauf, die das chaotische Kollektiv gemeinsam durchlebt. Klassische Reiseerlebnisse strukturieren den Trip auf der Miniatureisenbahn, dazwischen blitzt immer wieder das Gewicht der Geschichte hervor. „Schön, hier in Halle zu sein, 2018, vor hundert Jahren wäre das eine Versteigerung gewesen“, bricht die koloniale Geschichte als unangenehm verbindendes Element zwischen den Spielpartnerländern Südafrika und Deutschland in die bis eben noch vergnügte Roadtripatmosphäre ein. Darauf ein Törtchen für alle und weiter geht die turbulente Reise.
Wann kommt der Zug, auf welches Gericht der internationalen Speisekarte lässt es sich einigen und wie bettet man fünf bis sieben Leute auf engstem Raum – Notwendigkeiten des alltäglichen Umgangs verweben sich mit der immer wieder auftauchenden Frage nach Bedeutung, Macht und Sichtbarkeit. Auf der Suche nach dem Monument blitzen vielschichtige Assoziationen auf. Wer ist der ‚Alte Mann‘? Vielleicht Putin, Steinmeier oder Trump? Sollte besser eine Frau auf dem schönen Sockel mit Kunstrasenbesatz stehen? Eine großzügige Spenderin aus dem Publikum? Oder gar die Puppenspielerin selbst, frustriert darüber, vier Jahre „auf der Puppenuni“ gewesen zu sein, nur „um zu lernen, unsichtbar zu sein“?
Der sich überschlagenden Komplexität in höchster Geschwindigkeit angerissener Themen – „Afrika ist kein Land - und was essen wir jetzt?“ – wird durch technische Kniffs Rechenschaft getragen. Die Frage nach der „Fliehkraft des Standpunkts“ transferiert die im Stück parallel geführte Debatte um Deutungshoheit in Weltpolitik und auf der Puppentheaterbühne auf die Sicht einer Puppe: Je ein Auge der beiden Giganten ist eine Kamera, deren Sichtfeld auf die Bühnenrückwand projiziert werden. Ein Wechselspiel aus Blinkwinkeln, die sich abwechseln, überlagern und sogar interagieren, wenn die vor dem einen Angesicht geführte Schere die der anderen Puppe vorgehaltenen Fotographie eines ‚Alten Mannes‘ zerschneidet.
In die abstrakten Konflikte um Macht und Herrschaft mischt sich die Eitelkeit der fünf Spieler_innen, die im ständigen Streit um Aufmerksamkeit und Anerkennung liegen und dies nicht nur durch lautstarke Hinweise auf die eigene Übermacht als Spieler_in ausdrücken, sondern auch mithilfe kleiner technischer Kniffs wie den Einsatz von Smartphonekameras, die die Projektionen der Camera Eyes zu übertrumpfen suchen.
Bücherverbrennung und Gewaltherrschaft, Sklaverei und Kolonialgeschichte – die turbulente Spurensuche gleicht einer Assoziationsmaschinerie, die unablässig mehr oder minder explizite Bildfragmente zutage fördert. Kurz angerissen bleiben sie als Verweis mit Fußnote und offenen Fragen im Raum stehen und schichten sich im Laufe des Abends übereinander. Die Reise kulminiert schließlich im finalen Monument, welches die gigantischen Puppen mit sämtlicher Requisite des Abends zu einer Gesamtschau der Erinnerung in sich vereint. Selbst die Spieler_innen werden Teil des Denkmals. Das ist es, was bleibt: Ein Flickenteppich aus Geschichte(n). Wer das lesen könnte!
Premiere am 12.10.2018 | Dock 2, Puppentheater Halle
Koproduktion mit der Handspring Puppet Company Cape Town | In Zusammenarbeit mit dem Baxter Theatre Centre Cape Town
Regie: Robyn Orlin
Puppendesign: Adrian Kohler, Handspring Puppet Company
Puppenbau: Adrian Kohler, Jonah de Lange, Andy Jones, Zweli Ncombela
Konzept Projekt / Koordination: Torsten Maß
Dramaturgie / Stückentwicklung: Francesca Spinazzi und Andreas Hillger
Spiel: Mmakgosi Tsogang Kgabi a.G., Franziska Rattay, Ivana Sajevic, Lambert Mousseka Ntumba a.G., Nico Parisius
Organisation / Verwaltung: Annabell Buschung
Regieassistenz: Henrike Wiemann
Ausstattungsassistenz: Marcel Dewart
Ausstattungshospitanz: August Wicht
Technischer Leiter: Daniel Schreiner
Technik / Beleuchtung / Ton / Video: Heryk Drewniok, Thorsten Solokowski, Eric Perroys
Requisite: Sebastian Hennug
Unterwäsche: Birgit Neppel
Foto: Yvonne Most
1Dazu Basil Jones: „Die Kunst des Puppenspielers besteht ja normalerweise darin, ein Objekt zum Leben zu erwecken – und das gelingt mit Monumenten natürlich nicht.“
2Dazu Robyn Orlin: „Die Stoffe, die wir benutzen, haben eine lange Tradition. Sie wurden zunächst in Europa hergestellt, sind aber bis heute Teil einer afrikanischen Identität. Die Ironie der Geschichte: Ursprünglich wurden sie von den Kolonialisten genutzt, um damit ihre Sklaven zu kleiden. Diese Konnotation haben sie inzwischen verloren – aber sie werden immer noch getragen und mittlerweile auch in Afrika hergestellt.“
3Siehe Programmheft