Die aktuelle Kritik

Schauspiel Frankfurt: „Die Orestie“

von Oliver Mayer

Die vielschichtige Inszenierung von Aischylos’ „Orestie“ am Schauspiel Frankfurt präsentiert die rachsüchtigen Atriden als fremdgesteuerte Puppen.

„Sie haben gewählt: ‚8‘ – ‚Rache‘“, tönt es in den ersten Minuten aus den Lautsprechern – zwar wurden die Zuschauer im Großen Haus des Schauspiel Frankfurt nicht wirklich nach ihrer Meinung gefragt, doch angesichts der blutrünstigen Rachetragödie, die sich hier gleich abspielen wird, erscheint dies als eine durchaus adäquate Wahl. Jan-Christoph Gockel hat seiner Inszenierung der „Orestie“ von Aischylos (525–456 v. Chr.) eine Exposition vorangestellt, die in der Form eines Museums-Audioguides daherkommt und thematisiert, wie sich kulturbeflissene Rezipienten heutzutage Kenntnisse des antiken griechischen Theaters aneignen. Wissensschnipsel zum Autor oder zur Funktion des Chors verschränken sich mit Optionen interaktiver Menüs zu einem akustischen Flickenteppich, der einen nicht ganz leicht zugänglichen Einstieg in diesen ebenso vielschichtigen wie beklemmenden Theaterabend bietet.

Auch was – zumindest in der ersten Hälfte der Inszenierung – folgt, ist eher eine lustvolle Zergliederung des Stoffes, die zahlreiche Fremdtexte in die Übersetzung von Peter Stein montiert, denn eine psychologisch-realistische Darbietung der Aischylos-Trilogie. Für Distanz zum überlebensgroßen Mythos sorgt nicht zuletzt der Einsatz verschiedenartiger Puppen: im ersten Teil von Handpuppen, die von den Mitgliedern des in uniformes Schwarz gekleideten Chores geführt werden, welche ihnen auch ihre Stimmen verleihen. Die Graufärbung der nackten Puppenkörper wirkt, als handle es sich von vornherein um lebende Tote – und nichts anderes sind sie auch, denn ein Großteil von ihnen wird im Verlauf des Abends entweder von den nächsten Angehörigen gemeuchelt werden oder als Mörder dem Wahnsinn verfallen: Klytaimestra tötet ihren Ehemann, den Kriegsheimkehrer Agamemnon, wofür sie und ihr Liebhaber Aigisthos von ihrem Sohn Orestes, dieser wiederum angestachelt von seiner Schwester Elektra, ermordet werden. Diese Figuren sind keine souverän handelnden Subjekte, sondern erfüllen ein von den Göttern vorgezeichnetes Schicksal. So deckt sich der Einsatz der fremdgesteuerten Puppen schlüssig mit dem Menschenbild der Trilogie. Die abgründige Tragik der Figuren, die wie Kassandra sehenden Auges ihrem Verhängnis anheimfallen, wird aber immer wieder durch comic relief aufgebrochen, etwa wenn Agamemnons Ermordung im Bad ganz bewusst recht kasperletheaterhaft inszeniert wird.  

In der dramaturgisch stringenteren zweiten Hälfte des Abends treten die Puppen hinter die menschlichen Akteure zurück, die sich nun vom Kollektiv des Chors emanzipieren und tatsächlich richtige Figuren spielen. Gockels exzellente Schauspielerführung verleiht dem Mittelteil um den immer wieder vor der Monstrosität des Muttermordes zurückschaudernden Orestes emotionale und atmosphärische Dichte. Orestes (Samuel Simon) wird hier ein von Apollon (Puppenbauer Michael Pietsch) geführtes kindliches Marionetten-Double zur Seite gestellt – er muss, um seine Mutter (Katharina Linder) töten zu können, seinen kindlichen Teil von sich abspalten. Auch die Rachegeister der Erinyen sind in Marionettenform gestaltet: als ein Geier, den Pietsch mit Hilfe eines Präparators aus einem echten Tierkadaver gefertigt hat. Den nach den Morden irrsinnigen Orestes terrorisiert der Vogel mit Kinderversen und deutschem Liedgut.

Die Handpuppen des ersten Teils kehren im nach Athen verlagerten Abschluss der Trilogie wieder, und zwar als Bestandteile eines Giebelfrieses, der sie zu mythischen, vorgeschichtlichen Figuren erstarrt zeigt. Im Gegenzug erweckt ein Diener eine vermeintliche Puppe zum Leben, die sich als die Göttin Athene erweist und von einer Schauspielerin (Aimée Rose Geiger/Fiona Metzenroth) verkörpert wird. Mit ihrem Votum im Prozess gegen den Mörder Orestes, das den Ausschlag für dessen Freispruch gibt, setzt sie der endlosen Gewaltspirale die Kraft der Versöhnung entgegen. In der sublimierenden ästhetischen Bannung der racheerfüllten Atridenfamilie im künstlerisch gestalteten Fries und der Belebung der Athene-Figur zu menschlicher Gestalt manifestiert sich so letztlich auch der Weg der attischen Gesellschaft von der vorgeschichtlichen Fixierung auf Rache und Vergeltung hin zu Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und versöhnendem Ausgleich.      

 

Premiere am 22.02.2020, Schauspiel Frankfurt

Regie: Jan-Christoph Gockel
Bühne: Julia Kurzweg

Kostüme: Amit Epstein
Musik/Hörspiel: Matthias Grübel
Puppenbau: Michael Pietsch
Dramaturgie: Marion Tiedtke
Licht: Frank Kraus

Darsteller: Sebastian Kuschmann/Sebastian Reiß (Agamemnon/Chor), Katharina Linder (Klytaimestra/Chor), Torsten Flassig (Kassandra/Chor), Andreas Vögler (Aigisthos/Chor), Samuel Simon (Orestes/Chor), Altine Emini (Elektra/Chor), Michael Pietsch (Apollon/Chor), Christoph Pütthoff (Diener/Chor), Aimée Rose Geiger/Fiona Metzenroth (Athene)

Foto: Thomas Aurin

 

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