Die aktuelle Kritik

Puppentheater Magdeburg / Théâtre de l’Entrouvert / Vélo Théâtre: „Re-member“

Von Tobias Prüwer

Gruppieren, umgruppieren. Exponieren, experimentieren. Fäden ziehen, Zusammenhänge finden. In einer magischen Séance aus Material- und Marionettentheater vereint „Re-member“ am Puppentheater Magdeburg zwei Traditionen und rührt zugleich am Kern der Kunst dramatischer Objektbewegung.

Holzwege: „Vielleicht bin ich aus Linde“, stellt sich die kleine Gliedermarionette vor. Blind ist sie und nackt. „Ich habe keine Knie, nur Beine, aber mit diesen kann ich schlenkern.“ Spricht sie und schlenkert los. Dann rascheln weitere Marionetten – alle stammen aus dem Magdeburger Repertoire – in ihren Stoffbeutel-Gefängnissen am Bühnenhimmel los, schütteln diese ab und entern nach unten sausend das Parkett. Eine jede Figur ist eigen in ihren Bewegungen – was eben Material und Puppenkonstruktion ermöglichen. Sie tanzen eine zuckende Zeremonie, die zur verzückenden Verzauberung wird. Denn so befreit hat man Ensemble-Marionettentheater selten gesehen. Und das ist nur ein Teil dieses famosen Abends, mit dem in Magdeburg ein besonderer Weg eingeschlagen wurde, wenn freie Szene und städtisches Theater in einer Koproduktion zusammenkommen.

"Re-Member", Koproduktion Puppentheater Magdeburg, Théâtre de l’Entrouvert, Vélo Théâtre. Foto © Viktoria Kühne

Der Vorlauf dafür war nicht gering. Schon 2016 trafen sich im Haus an der Elbe-Stadt Vertreter*innen der Ensemble-Puppentheater zum Symposium „Aufbruch“. Dabei ging es unter anderem um Fragen nach dem künstlerischen Selbstverständnis und dem Verhältnis zur freien Szene, nach möglichen Defiziten, strukturellen wie ästhetischen Potenzialen und Beschränkungen, die die Produktionsprozesse an solchen eher schwerfälligen Häusern bedingen. Und natürlich um Fragen von Materialien und Stoffen. Schon damals war die Eröffnung eines Experimentierfelds am Puppentheaterhaus Magdeburg angedacht. Der ihm 2019 verliehene Theaterpreis des Bundes machte dessen Finanzierung möglich. Nach pandemiebedingter Verzögerung konnte die Koproduktion mit dem Théâtre de l’Entrouvert und dem Vélo Théâtre Anfang April in Frankreich und nun in Magdeburg gezeigt werden.

Élise Vigneron und Julika Mayer waren gewissermaßen die Spielleiterinnen, die gemeinsam mit dem fünfköpfigen Ensemble in einem zwischen Deutschland und Frankreich hin- und herpendelnden Probenprozess die Produktion zusammenwachsen ließen. Prozess ist wörtlich gemeint. Nichts war vorbestimmt, alle brachten sich ein, um die Grundidee, Holzwege zu beschreiten, zu verwirklichen. Wenn man es auf deutsche Spielweisen zuspitzt – natürlich ist das arg holzschnittartig, sei hier aber einmal erlaubt –, dann kommen in „Re-member“ die Berliner und Stuttgarter Schule in beeindruckender Synergie zusammen. Werden die Traditionsfäden der Materialerforschung und kunstvollen Figurenführung miteinander verwoben.

"Re-Member", Koproduktion Puppentheater Magdeburg, Théâtre de l’Entrouvert, Vélo Théâtre. Foto © Viktoria Kühne

Denn bevor die Marionetten zum Leben erweckt und dann wieder lebloses Spielmaterial werden, beginnt der Abend mit einem assoziativen Spiel aus Naturmaterialien. Anfangs liegen Rindenstücke und Grasnarben, Fuchspelze und allerhand Äste im Bühnenraum. Sie sind sortiert, geordnete Natur, die hier vor allem aus Holz besteht. Nach und nach nehmen die Spielenden sie auf, tragen sie herum, schmiegen sie an ihre Körper, hängen sie zur weiteren Animierung an Seilen auf. Da wird eine Borke mal zur Körper- oder Gesichtsmaske, mit der ein Tanz beginnt. Schwebende Äste verbinden sich miteinander, aber auch mit Menschenleibern, auf denen sie gruppiert werden. Die Frage nach belebt und unbelebt, Mensch und Natur, Material und Funktion wird berührt. Mit den später hinzukommenden Marionetten wird zusätzlich nach dem Status von Objekt und Figur gefragt wird, also auch nach dem von Spielenden und Doubletten. Das alles passiert nicht in Geschichtenform oder linearer Abfolge, nicht verkopft, sondern auf emotionaler und intuitiver Ebene.

„Re-member“ lässt somit Erinnerungen aus der Natur aufflackern, versucht aber auch Formen zu ergründen, wie man member (Mitglied) werden, also zusammenkommen kann. Das gelingt als Rausch kleiner und großer Bewegungen, einem unmittelbaren Ereignis, in welchem sich die Magie des Figurentheaters offenbart – sofern man sich auf dieses Gegenstück zum für Ensemblehäuser gängigen Literaturtheater einlassen kann.

 

„Re-member“

von Élise Vigneron, Julika Mayer und Ensemble für Menschen ab 16

Koproduktion vom Puppentheater Magdeburg mit dem Théâtre de l’Entrouvert und dem Vélo Théâtre

Konzept, Regie, Bühne und Kostüm: Élise Vigneron (Théâtre de l’Entrouvert) und Julika Mayer

Raum und Licht: Joachim Fleischer

Stückentwicklung und Spiel: Luisa Grüning, Annina Mosimann, Freda Winter, Leonhard Schubert, Kaspar Weith

 

Deutschland-Premiere: 12.4.2023, Puppentheater Magdeburg

Weitere Informationen und Spieltermine finden Sie auf der Website des Puppentheaters Magdeburg

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