Die aktuelle Kritik

Artisanen: „Anne Frank – dem Vergessen auf der Spur“

Von Barbara Fuchs

Berührend! Dokumentarisch-biografisches Theater mit Objekten und Puppen an der Schaubude Berlin

Hier ist alles aus der Ordnung gefallen. Dinge, mit denen sie gelebt haben, tragen Spuren von Gewalt. Der Küchentisch, an dem sie zusammen aßen, ist zerschmettert. Die verstörende Installation aus demoliertem Mobiliar steht als Zeichen für die Situation, die Otto Frank, der Vater von Anne Frank, als einziger Überlebender der Familie nach seiner Rückkehr aus Auschwitz, in der Prinsengracht 263 in Amsterdam vorfand.

Dieser Ort wurde durch Anne Franks Tagebuch weltweit bekannt: eine versteckte Hinterhofwohnung als Zufluchtsort für acht jüdische Menschen. Das Tagebuch wurde in mehr als 60 Sprachen übersetzt, verfilmt und schon mehrfach auf die Bühne gebracht. Dennoch, gerade jetzt, war es für die Berliner Artisanen Inga Schmidt und Stefan Spitzer an der Zeit, mit einem eigenen Beitrag das Tagebuch in Szene zu setzen. In Zusammenarbeit mit Tim Sandweg als Dramaturg haben sie eine Textauswahl getroffen, bei der die sensible Beobachtungsgabe und die früh entwickelte gedankliche Freiheit der Anne Frank deutlich wird.

Inga Schmidt und Stefan Spitzer, dunkel gekleidet, platzieren Schwarzweiß-Fotos auf Schranktüren und stellen alle von 1943-1945 in dem Versteck Untergetauchten vor. Anne Frank lebte im Alter von 13 bis 15 Jahren dort. 761 Tage. Die Spieler fragen, wie wird sich das angefühlt haben, mit anderen Menschen auf engstem Raum zu leben, immer leise sein zu müssen, immer Angst zu haben, entdeckt zu werden? Wie fühlt es sich an, sich auf engstem Raum zu verlieben?

Die Artisanen arbeiten auf verschiedenen Ebenen. Mit Tagebuchtexten, mit Dingen und Puppen, Klängen, Licht und Schatten wird die Zeit charakterisiert und es entsteht ein Porträt der Anne Frank, das von ihrer Lebendigkeit, ihren Sehnsüchten, ihren Ängsten und inneren Widersprüchen erzählt.

Ein Spieler mit hochgereckten Armen platziert über der Installation einen Setzkasten, in den sich acht hölzerne Kegelpüppchen drängen. Es gibt wenig zu sehen, aber mit Zitaten und kleinen Hörspielen werden Situationen deutlich, z. B. wie der knappe Raum aufgeteilt wird oder die Mittagszeit: Kirchenglocken, alle haben sich versammelt und lauschen dem BBC-Sprecher. Danach das große Austeilen von Essen, Besteck- und Geschirrklappern. Erst dann für Anne die ruhigste Stunde – nur ihre Schreibfeder ist zu hören. Das Setzkasten-Bild bleibt als Zeichen von Enge und Bedürftigkeit in Erinnerung.

Für das Spiel mit Tischpuppen hat Judith Mähler Figuren von Anne und Otto Frank gestaltet. Sie erhalten Spielfläche, indem der demolierte Schrank geöffnet wird. Das Licht fällt nur auf die Puppen. Eine Szene demonstriert das Auf und Ab von Annes Gefühlen. Wie sie Eigenständigkeit und Vertrauen einfordert, gerät zu einem heftigen Streit mit ihrem Vater. Eine stille Szene zeigt Anne beim Betrachten alter Fotos und beim Schreiben. Heftig ihr Kampf mit ihrer zweigeteilten Seele. Ob allerdings das Spiel mit vier zappelnden Barfuß-Puppenfüßen dem inneren Konflikt von Annes Identitätssuche entsprechen kann, bleibt fraglich. In einer Traumszene läuft Anne zu sphärischen Klängen über die Bühne, dann hört man Bombeneinschläge, Explosionen.

Es überrascht, mit welcher Genauigkeit Anne Frank trotz ihrer Isolierung politische und kriegerische Ereignisse, vor allem die zunehmende Entrechtung der jüdischen Bevölkerung protokollierte. Dies war möglich auch durch die Solidarität von Helferinnen und Helfern. Auch sie werden mit Fotos in Erinnerung gebracht. Sie brachten täglich nicht nur Lebensmittel, sondern auch Zeitungen und Bücher und berichteten von Verbrechen an jüdischen Nachbarn.

Die erste emotionale Annäherung zwischen Anne und dem wenige Jahre älteren Jungen Peter wird in einem behutsamen und zugleich intensiven Zusammenspiel von Puppe Anne und dem Schauspieler Stefan Spitzer realisiert.

In der vorletzten Szene sitzt Otto Frank allein im fahlen Licht. Das Versteck wurde verraten. Niemand hat überlebt. Anne und ihre Schwester Margot starben im Winter 1944/45 an einer Typhusepidemie im KZ Bergen-Belsen.

Im letzten Bild ist noch einmal Anne Frank im Zentrum und ihr Tagebucheintrag vom 29. März 1944 wird zitiert: „Ich weiß, dass ich schreiben kann…. Ich werde in der Welt und für die Menschen arbeiten. Ich will fortleben, auch nach meinem Tod.“

Eine starke Inszenierung von hoher Aktualität angesichts von Pegida auf der Straße, AfD im Parlament und dem Erstarken von Antisemitismus und Fremdenhass.

Premiere:
11. 01. 2019

Künstlerische Beratung: Uta Gebert / Karin Schmitt

Spiel: Inga Schmidt / Stefan Spitzer
Sounddesign: Mark Badur / Inga Schmidt
Dramaturgie: Tim Sandweg
Puppenbau: Judith Mähler

Bühnenbild: Stefan Spitzer

Gefördert durch Schaubude Berlin
http://www.ARTISANEN.COM

Nächste Spieltermine:  26. 01., 19:30 Uhr  Hamburger Puppentheater, 16. 02., 20 Uhr Schaubude Berlin, 15. 03., 20 Uhr Figurentheater Grashüpfer, Berlin

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