Suse Wächter, Berliner Ensemble: "Brechts Gespenster"
Wer schon einmal in einem Puppenfundus war, kennt das unbehagliche Gefühl, das einen an solchen Orten beschleicht. Die Figuren, die man als beseelte Wesen kennengelernt hatte, sind nur noch Holz, Schnüre und Stoff, Objekte, die lieb- und leblos an Haken hängen, der Fundus ist ein Kabinett des Grauens, ein Geisterhaus. Und so ein Geisterhaus hat Constanze Kümmel für Suse Wächters „Brechts Gespenster“ auf die Vorbühne des Berliner Ensembles gebaut: einen Fundus, in dem unzählige Puppen hängen, Karl Marx, Luciano Pavarotti, Bertolt Brecht natürlich, der Hausheilige. Man sieht Marionetten, Stabfiguren, lebensgroße Klappmaulpuppen, es ist eine Lust, sich in diesem Bühnenbild zu verlieren, aber es ist auch ein bisschen gruselig, weil das Licht schummert, der Bühnennebel wallt und düstere Stimmen sich Unverständliches zuflüstern. Ein Geisterhaus. Und zwar im Wortsinn.
Bespielt wird nur die Vorbühne, die eigentliche Bühne ist besetzt mit dem Bühnenbild für Barrie Koskys „Dreigroschenoper“, ein Publikumsrenner, immer ausverkauft. „Die Dreigroschenoper“ ist das erste Gespenst, das durch das Stück (und die Theatermauern geistert), 1928 am gleichen Ort uraufgeführt und heute eine Hitmaschinerie, hinter deren Erfolgsmelodien jeder sozialkritische Gehalt längst verschwunden ist. Auch in „Brechts Gespenster“ spielt Matthias Trippner am Keyboard die ersten Takte der „Moritat von Mackie Messer“ an, und Wächters Brecht-Puppe kommentiert das resigniert mit einem „Das spielen wir heute Abend aber nicht!“ Doch es ist natürlich klar, das Publikum würde jetzt schon gerne „Die Dreigroschenoper“ sehen. Es bringt nichts, gegen Gespenster anzukämpfen. Und weil der Kampf nichts bringt, überlässt Wächter die Bühne den Gespenstern, die das Haus bevölkern.
"Brechts Gespenster" © Jörg Brüggemann, v.l. Matthias Trippner, Bertolt Brecht (Puppe), Suse Wächter
„Brechts Gespenster“ ist als Revue aufgebaut, in der nacheinander verschiedene Geister aus der Theater-, Politik- und Gesellschaftsgeschichte auftreten, ein Lied singen oder einen Monolog halten und sich zum Abschied einen Nachfolger wünschen dürfen. Franz Kafka (eine kleine Stabpuppe) verzweifelt über dem Briefeschreiben, Gott und Marx (zwei lebensgroße Handpuppen) flirten miteinander („Ich habe das Gefühl, dass wir uns irgendwie ähnlich sind!“) und stellen nach leidenschaftlichem Geknutsche fest, dass sie wahrscheinlich doch nur alte, weiße und (leider) heterosexuelle Männer sind, und das Proletariat (sieben gesichtslose Stabpuppen, für deren Bedienung Wächter und ihr kongenialer Spielpartner Hans-Jochen Menzel eine Hilfskraft aus dem Publikum rekrutieren müssen) wird grausam verschaukelt. Das macht Spaß, hat Rhythmus, und das Publikum merkt nicht einmal, wie der Spaß sich nach und nach in blutigen Ernst verwandelt, wie ein Gentrifizierungsverlierer sich aus der unbezahlbar gewordenen Loge in die Tiefe stürzt, wie die „kleinen Leute“ (ein paar harmlose Gartenzwerge) sich darüber unterhalten, was denn wohl aus dem Proletariat geworden ist. Antwort: Das existiert durchaus noch, etwa in der Person von Saïd, der die U-Bahn-Stationen reinigt, nur ist es anscheinend kein Thema mehr.
"Brechts Gespenster" © Jörg Brüggemann, v.l. Martin Klingeberg, Gott (Puppe), Suse Wächter, Karl Marx (Puppe), Hans Jochen Menzel
Wächter also hat eine unterhaltsame Revue geschrieben, die das epische Theater Brechts in bester „Dreigroschenoper“-Tradition auf Fragen der Gegenwart loslässt. Dass die Regisseurin, Puppenbauerin und Performerin das Figurentheater damit nicht neu erfindet, ist tatsächlich stückdienlich: Wächter mag eine überaus talentierte Traditionalistin sein, die mühelos zwischen den verschiedenen Puppengattungen wechseln kann, am Ende bleibt sie innerhalb der Grenzen ihrer Kunst. Gerade für „Brechts Gespenster“ ist es aber folgerichtig, dass das Puppentheater immer als Puppentheater erkennbar bleibt.
Dramaturg Bernd Stegemann nämlich wendet im Programmheft die marxistische Warenwert-Theorie auf Brechts Theater an: „Aus einem Stück Holz wird ein Tisch. Aus einem Tisch wird eine Ware. Und die Ware wird zu einem Fetisch gemacht, um ihren Wert zu steigern. (…) Ein totes Stück Holz ist also zu allerlei Verwandlungen in der Lage, wenn es die Bühne des Marktes betritt.“ Man kann Stegemann als politischen Akteur, der an der Seite Sarah Wagenknechts leidenschaftlich gegen Diversitätsbemühungen kämpft, kritisieren, unbestritten ist er allerdings einer der versiertesten Neomarxisten in der aktuellen Theaterwelt, und wenn er von einem „toten Stück Holz“ schreibt, dann dürfte ihm klar sein, dass er nicht nur an Marx’ Tisch, sondern ebenso an Wächters Puppen denkt. Puppen, die sich verwandeln, sobald sie eine Bühne betreten.
Wie jede Revue hat auch „Brechts Gespenster“ ein bisschen Leerlauf: Dass etwa das „Gespenst des Kommunismus“ durch die Zuschauerränge fliegt und den Countryklassiker „16 Tons“ singt, sieht zwar gut aus, ist aber politisch eine Luftnummer, dass der ehemalige BE-Intendant Manfred Weckwerth erst Brechts V-Effekt erklärt und dann seine Stasi-Zuträgerschaft bestreitet, ist ein Insiderwitz. Dass die Pavarotti-Puppe ihre Hand penetrant auf Wächters Knie platziert – naja. Und auch dass die „Frau Tod“-Puppe Margaret Thatcher sich als Freudianerin outet („Ein Horrorhaus ist immer auch der Körper einer Frau!“), bleibt ein leerer Gag. Wobei: Thatcher ist auch diejenige, die dem verbliebenen Proletariat am Ende erklärt, dass Individualismus und Selbstverantwortung tolle Konzepte seien, nur um es dann schnöde zu exekutieren. Brechts Gespenster sind nicht nur gruselig, es sind auch tatsächlich gefährliche Gestalten, und wie Wächter diese Erkenntnis zwar ästhetisch konventionell, handwerklich aber hochvirtuos und dramaturgisch konsequent in die Gegenwart bringt, das lohnt einen Blick.
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Brechts Gespenster
von Suse Wächter
Premiere: 21.09.2022
Regie, Spiel, Puppenbau: Suse Wächter
Mit: Suse Wächter, Hans-Jochen Menzel, Matthias Trippner, Martin Klingeberg
Bühne: Constanze Kümmel
Musik: Matthias Trippner, Martin Klingeberg
Licht: Steffen Heinke
Dramaturgie: Bernd Stegemann
Fotos: Jörg Brüggemann