Lindenfels Westflügel: "Die Empfindsamkeit der Giganten"
Willkür, Zufall, Glück oder Schicksal? Zarte und derbe, sanfte und immer wieder irritierende Töne steigen aus dem Getüm aus Instrumenten empor. Unbeherrschbare Faktoren schaffen die Voraussetzungen, ein Stuhl wandert, von unsichtbarer Hand bewegt, über die Bühne. Geschwind nimmt einer der beiden Herren Platz. So ist "das Leben, wen's erwischt, der muss es eben nehmen." Manche haben's, manche nicht - das Genie. "Lasst es uns suchen und demokratisch unter uns verteilen", deklamieren die Herren in heiterem Tonfall und stürzen sich vom Prolog kopfüber ins bunte Treiben.
Programmatisch gehen Wilde und Vogel in ihrer dritten gemeinsamen Produktion mit dem Wiener Regisseur Christoph Bochdansky im Westflügel Leipzig vor. Die Mission ist klar umrissen: Was ist Genie?
Inspiration der einzelnen Bilder und Sequenzen ist Sigmund Freuds Schrift "Eine Kindheitserinnerung des Leonardo da Vinci" von 1910, in welcher er Leben und Werk des Malers einer in der Rezeption heftig umstrittenen Psychoanalyse unterzieht. Ausgehend von diesem Exempel fehlerhafter, teils verkürzter und insgesamt indifferenzierter Annäherung an "das Geniale" knüpft der Abend unter Verwendung seiner Motiven und Themen assoziativ, ernsthaft, nachdenklich und immer wieder erfrischend heiter an ebendiese Frage an: Wie nähert man sich dem Genialen? Woher kommt es? Wie zeigt es sich? Lässt es sich finden und festhalten – und wenn ja, wie?
Eine Bartlocke da Vincis, Bachs erstes Klavier und die letzte erhaltene Zigarre Freuds werden nach einer Dankesrede an die jeweiligen Spendermuseen als Reliquien der Altverehrten auf mögliche Hinweise untersucht, um den vermeintlich darin verborgenen göttlichen Funken mit Sinnen zu erfassen. Doch auch die absurdesten Versuche der Herren, den toten Gegenständen geheime Bedeutung zu entlocken, scheitern.
Als schließlich der schläfrige da Vinci in zottelhaariger Maske auftritt, hat sich das ehrfurchtsvoll scheue Interesse bis zur dringlichen Wut gesteigert: "Wo ist dein Genie? Verrat uns dein Geheimnis!"
Die Suche nach dem Genialen, einfühlsam geführt von Melodien, Störgeräuschen und Bachkompositionen, die vom musikalischen Zentrum des Geschehens ausgehen, führt ins Innerste. Könnte man sich nicht, sinniert der Herr in herzzerreißend komödiantischer Ernsthaftigkeit, von hinten nähern und zwei ganz kleine Löcher bohren, durch die man hineinsieht – und ein mal die Perspektive des Anderen auf die Welt einnehmen? Mit den Augen des Genies sehen, durch seine Nase riechen, mit seiner Zunge schmecken, nur einmal, einmal empfinden - wie fühlt sich das wohl an?
Und wenn nicht die einzelnen Sinne Antwort auf die Frage nach dem Sitz des Genies geben, dann vielleicht das Gehirn? Ein Geflecht verquerer Stöcke und Windungen, besetzt mit glitzernden Püscheln, senkt sich von der Decke herab und wird begeistert in Augenschein genommen. Sehen Sie, "das ist das System", ein "labiles Gleichgewicht", bestehend aus Synapsen, voll von Komplexen, Hemmungen und worüber man sonst nicht gern spricht – und das Genie ist ein Vögelchen, das sich zufällig mal hier mal dort niedersetzt - und ebenso zerbrechlich, wie das darauf folgende Märchen vom Vogel Twiditi zeigt, der nach dem Happy End versehentlich zwischen den Händen des Erzählers zerdrückt wird. "Oh, jetzt fliegt es nicht mehr."
Es bleiben Bilder und Metaphern, worüber sich die beiden Herren in schwarz dem Geheimnis des Genialen anzunähern suchen. Ungreifbares, nicht materialisierbares Phänomen – und gerade deshalb ein reicher Stoff für das Spiel mit Objekten und Puppen, wenn der geniale Funke als zwitscherndes Metallvögelchen plötzlich durch die Lüfte schwebt und Geistesblitze in Form schwerer Eisenkugeln einer klackernden Murmelbahn die Hirnwindungen verlassen und auf dem Bühnenboden verstreut liegen bleiben.
Als (haus)tierische Stellvertreter da Vincis und Freuds in Verhalten und Redeweise ihren Herren gleichend, brechen Hund und Geier (großartige Figuren, die durch garstige Hässlichkeit bestechen) zwischen den Szenen immer wieder die unermüdliche Suche nach "dem Genie". Als Kommentatoren des Geschehens belustigen sie sich unhaltbar albern an der vermeintlichen Erhabenheit des Genialen und scheuen den dümmsten Wortwitz nicht, um die fließenden Übergänge zwischen Hehrem und Profanem immer wieder zu verwischen und aufs Korn zu nehmen.
Aber was ist es, das bleibt? Sind es Ideen, die das Sein überdauern? Sind es Werke, wie Bachs Sinfonien oder da Vincis Mona Lisa, die geheimnisvoll lächelnd das Bühnengeschehen begleitet?
"So werden Giganten gemacht", schreit einer der Herren und stößt Freuds rote Couch als gigantischen Phallus vorgehalten durch den Raum. Und auch diese Antwort ist nicht falsch. Wo sonst sind Heiliges und Banales so untrennbar verwoben wie im allgemein gültigen Menschlichen - Gebären und Fortpflanzen, Fressen und Sterben?
Eine letzte Antwort bleibt aus und doch entsteht eine Ahnung: Das Geniale als Projektion einer Sehnsucht zu lesen – der Sehnsucht des Menschen nach der Überwindung seiner eigenen Sterblichkeit.
Im Lied der Matrosen im Sturm (Peer Raben, "Die großen weißen Vögel") kulminiert die allzu menschliche Sehnsucht nach Unsterblichkeit. Und während das vermeintlich Geniale bis zuletzt durch Erhöhung vereinzelt wurde, wagt das Schifferlied den Perspektivwechsel hin zu einem Trost spendenden großen Ganzen. Der Tod im Meer und das Verschwinden des Einzelnen in der Weite des Ozeans transportiert eine tröstliche Geborgenheit.
"Ich möchte dann doch lieber ganz alleine analysiert werden", bricht da Vinci nach dem Schlussakkord die Hoffnung auf ein versöhnliches Einvernehmen am Ende des Stückes – sehr zur Erheiterung des geneigten Publikums - und proklamiert dadurch in gleichen Teilen das Genie und seine Einsamkeit auf dem hohen Berg der Verehrung wie auch das zutiefst menschliche Streben nach eigener Identität und Selbstbestimmung.
Premiere: 15. September 2016
Spiel und Ausstattung: Christoph Bochdansky, Michael Vogel
Musik: Charlotte Wilde
Dramaturgische Mitarbeit: Janne Weirup
Entwicklungshilfe: Gyula Molnár
Foto: Thilo Neubacher