Die aktuelle Kritik

The Optimists, Potsdam: "Lost Instars"

Von Katja Kollmann

Ein See aus Tischtennisbällen wird zum Feuerwerk, eine Raupe befreit sich aus ihrem Kokon und ein Gummihandschuh wird zum erbitterten Feind. Verlorene Larven, „Lost Instars“ nennt die Berliner Compagnie „The Optimists“ ihre Performance, in der Jonglage eine wichtige Rolle spielt.

Man fühlt sich eigenartig fremd im Hof des T-Werks in Potsdam. Fremd, weil man vorher in die Welt der „Verlorenen Larven“ Einlass gefunden hat. Fünfzig Minuten hatte diese Welt existiert. Jetzt erst zeigte sich: auf der Bühne stand wirklich ein Mensch – was vorher in der Larvenwelt nicht ganz klar war. Hatte der Mensch sich doch lange bewegt wie ein Zwitterwesen aus Roboter und Puppe, gekleidet in einen gelben Ganzkörperanzug, als müsse er sich gegen feindliche Viren oder Strahlen schützen. Auf der Bühne des T-Werks trifft er auf die fragile und doch widerständige Welt der dunkelblauen Bälle, die von Dellen übersät spannungslos den Bühnenboden bevölkern. Sein Gesichtsschutz ist mit Leuchtelementen ausgestattet, die den Blick freigeben auf ein seltsam erstarrtes Gesicht, dessen Augen eingerastet zu sein scheinen.

"Lost Instars" © Jörg Schiebe

Es ist stockdunkel im Bühnenraum, die Vorwärtsbewegungen im gelben Schutzanzug sind langsam und doch abrupt. Sie kommen aus dem Körper und wirken doch, als kämen sie von außen. Man sieht auf den sich stetig, aber minimal verändernden Lichtkegel und das eigene Zeitgefühl fängt an, sich zu verändern: Zeitlosigkeit breitet sich aus. Irgendwann berühren die Hände, die bis dahin wie die Gliedmaßen einer Marionette aus dem Schutzanzug hingen, den ersten blauen Dellenball. Jetzt beschleunigen sich die Bewegungen unter dem gelben Anzug. Nach dem gewonnenen Kampf gegen die eigene Oberbekleidung liegt der hell entblößte Körper auf dem Boden wie eine Raupe, die sich von ihrem Kokon befreit hat, bevor sie zum Schmetterling wird. Die Körperraupe robbt durch die Wüste der blauen Dellenbälle, verfängt sich in einigen und hat plötzlich drei Bälle wie Saugglocken am Arm, mit denen sie sich dreht. Das sieht physikalisch zwar grenzwertig aus, funktioniert aber.

Und auf einmal befindet sich der Raupenkörper hinter einem Gebirge aus Dellenbällen, das von ihm gerockt wird. Es muss sich drehen und wenden, wie er es will. Es scheint zu galoppieren, sich zu falten, um dann wieder zusammenzufallen, um weiter vor sich hin zu vegetieren. Die Körperraupe entblößt nun das Innenleben der Bälle, indem sie einem die Innereien entnimmt. Der Vorgang wird gefilmt: im Vordergrund ist so der Slapstick der Ausschlachtung eines Gummiballs, auf der Bühnenrückwand entstehen dabei poetische Bilder. Es ist die Schlacht mit der Materie, auf die Spitze getrieben mit dem Zweikampf von Körper und Gummihandschuh, der mit dem Körper in einer symbiotischen Beziehung verzahnt zu sein scheint, so widerständig ist er bei der Loslösung von seinem Wirt.

"Lost Instars" © Jörg Schiebe

Orangene Tischtennisbälle poppen aus der Mundöffnung des Körpers, er lässt sie in einen See aus ebendiesen fallen. Dann wird die Schwerkraft im T-Werk für einen kurzen unvergesslichen Moment außer Kraft zu gesetzt, indem der Körper den ganzen See, dessen Ufer einer blauen Ikeatüte zum Verwechseln ähnlich sieht, in die Luft schleudert und ein orangenes Miniball-Feuerwerk den Raum verzaubert, bevor das Klackern der gefallenen Bälle den Schlussakkord einleitet.

„Lost Instars“, verlorene Larven, nennt die Berliner Company „The Optimists“ diesen Abend, der Worte nicht braucht, dafür gekonnt Klangkunst einsetzt und eine neue Körperlichkeit sowie ein hierarchiefreies Nebeneinander von Wesen und Materie propagiert. Auf dem Flyer zur Inszenierung findet man das Manifest der 2020 gegründeten Gruppe: „Unsere kreativen Wurzeln liegen in der neuen und experimentellen Jonglage, bei der Objekt, Körper und Klang gleichberechtigt strukturgebend für die Inszenierung sind.“ Matthias Buhrow, der Gründer von „The Optimists“ verkörpert das Zwitterwesen, das oszilliert zwischen Roboter, Puppe, Raupe, Körper und ein bisschen Mensch. Dramaturgisch ist der Abend ein Meisterstück, die Spannung hält sich konstant auf einem sehr hohen Niveau. Wunderbar ist, dass man während dieser fünfzig intensiven Minuten keinen Augenblick lang voraussehen kann, wie es im nächsten Moment oder überhaupt weitergehen könnte. Der Abend wirkt wie ein entschleunigter Schnellzug mit Aussicht auf völlig neue Landschaften. Das kann definitiv süchtig machen.

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9.9.und 10.9.2022 im T-Werk Potsdam

Performance: Matthias Buhrow

Kreation, Konzept, Dramaturgie, Sounddesign: Alex Lempert, Matthias Buhrow

Regie: Jörg Schiebe

Lichtdesign: Loic Iten

Technik: Piotr Lemieszczuk

Koproduktion mit T-Werk Potsdam

 

Gefördert vom Fonds Darstellende Künste aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Landeshauptstadt Potsdam, MWFK des Landes Brandenburg    

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