Die aktuelle Kritik

Puppentheater Magdeburg: „Mädchen in Not“

Von Tobias Prüwer

Ein Haufen Leiber. Leblose Körper türmen sich in der Bühnenmitte zu einem Fleischberg auf. „Puppen raus!“, schreit die einzige Überlebende und unterstreicht die Forderung mit erhobenem Arm. Dann wird es dunkel. Mit einem absurden Schlussbild endet die dunkle Revue, die wie gemacht ist fürs Figuren-, ähm: Puppentheater. Denn der Theaterstoff um zwanghafte Rollen, Körperklischees und soziales Strippenziehen gewinnt auf der Puppenbühne eine zusätzliche Ebene.

„Ab sofort träume ich davon, mein eigenes Leben zu führen und ich will mit einer Puppe als Mann nach Italien.“ Baby will aus ihrem alten Leben aussteigen. Mit einer Puppe, mit der sie nach Belieben alles tun und lassen kann, glaubt sie sich glücklich. Glücklicher jedenfalls, als weiter nach den gesellschaftlichen Vorstellungen vom Frausein zu leben. Ihren zwei Liebhabern Jack und Franz passt das nicht in den Kram. Wenn das Schule machen würde, droht die Mannheit auszusterben. Ihr Plan: Selbst zu Puppen werden, um Baby ihre Vorstellung madig zu machen. Also hat Baby bald zwei Puppen, ihre Freundin Dolly darf aber nicht mit ihnen spielen. Dabei will sie endlich auch mal ihre Libido befriedigen. Aber die Männer lassen sie stehen, weil ihre größeren Formen nicht der Norm entsprechen. Und dann herrscht im Hintergrund noch die Gesellschaft der Freunde des Verbrechens über die Einhaltung gesellschaftlicher Konventionen. Jegliche Differenz und Abweichung merzt sie aus.

Es ist ein wilder Reigen, den Anne Lepper mit „Mädchen in Not“ fabriziert hat. In Magdeburg kann man der Parade von Klischees, schwarzer Galle, Gewalt und Gesellschaftskritik inhaltlich nur vage folgen. Nis Søgaard legt es auf seiner im offenen Raum rundtreppenartig angelegten Bühne aber auch gar nicht darauf an. Ihm geht es um ein doppelbödiges Spiel, das die dem Figurentheater eigene Frage nach dem Wesen der Puppe, nach Leben und Material auf die Spitze treibt. Was passiert, wenn eine Puppe als Mensch erklärt, nun zur Puppe werden zu wollen? Was heißt es, wenn eine lebendige Menschenpuppe mit einer Puppe gewordenen, also toten Menschenpuppe Sex hat und sie dann eine Menschenpuppe gebärt?

"Mädchen in Not" © Anjelika Conrad

Das Spiel mit der Doublette beherrscht Luisa Grüning ansehnlich. Gliederpuppen, Torsos und Köpfe vermag sie lebendig zu animieren. Auch die Differenz zwischen den Puppenstadien, wer lebt, wer ist tot?, macht sie deutlich – die natürlich beständig verschwimmt. Rhythmisch ist die Inszenierung auf Musik gebaut. Grünings Sidekick Richard Barborka steuert auf dem Klavier, via Synthesizer und einmal auf dem Xylophon meist aus den Achtzigern bekannte Melodien ein. Beide singen dazu, manchmal tanzen sie auch. Außerdem agiert Barborka wie ein düsterer Conférencier aus dem Hinterhalt. Die Hits, da geht es immer um „Babys“, verführungsbereite Mädchen und begattunsbegierige Frauen, zeigen, wie tief heterosexuelles männliches Denken in der Popkultur verbreitet ist. Denn natürlich ist man versucht, bei bekannten Titeln mitzuwippen, auch wenn man ihren ekligen Inhalt vor Augen geführt bekommt.

Dabei entstehen bewegende Bilder, die das Thema Feminismus, Frauenkörper – Stichwort. „Hey, Puppe“ –, „Menschenmaterial“ und Normen nicht nur streifen. Etwa wenn ein männliches Figürchen einen lebensgroßen Frauentorso erst vergewaltigt („das mochtest du früher doch auch“), um danach auf ihm in Triumphpose herum zu hopsen. Immer wieder werden Leiber fragmentiert, beschädigte Körper verführt und vorgeführt, Episoden aus dem beschädigten Leben aufgeführt. Das funktioniert als chaotisch-absurde, oft brutale, manchmal sinnliche Bilderfolge, die den Kopf überfordert, aber aufs Bauchgefühl zielt. Instinktiv übermittelt sich übers „tote“ Puppenmaterial, was da passiert. Und das ist viel intensiver als gelehrte Worte, weil es direkt ans Eingemachte geht.

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Puppentheater Magdeburg

„Mädchen in Not“ von Anne Lepper für Menschen ab 18

Premiere: 4.11.2022, Dauer 80 Minuten

Regie: Nis Søgaard

Bühne und Kostüm: Nis Søgaard, Doreen Wagner

Puppen: Barbara Weinhold

Musikarrangement: Philipp Plessmann

Musik: Richard Barborka

Dramaturgie: Juliane Wulfgramm, Sofie Neu

Spiel: Luisa Grüning, Richard Barborka

Teaser-Foto © Viktoria Kühne

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