Gisèle Vienne: „Der Teich“ & Miet Warlop: „After All Springville“
Wenn Puppen einfach so daliegen, dann ergibt das ein beunruhigendes Bild. Leblose Körper, Leichen eigentlich, drapiert im Raum. Gisèle Vienne eröffnet ihre Bearbeitung von Robert Walsers „Der Teich“ mit solch einer verstörenden Puppenszene: In einem aseptisch weißen Zimmer liegt eine Chaiselongue, eine gewisse Unordnung hat sich breitgemacht, der Inhalt einer Chipstüte wurde über den Boden verteilt. Und vor allem liegen Körper rum, auf dem Liegemöbel ebenso wie im Raum: lebensgroße Puppen, Schaufensterpuppen vielleicht, steif, zerstört, mit lasziv geöffneten Mündern und schläfrigem Blick. Ein Schlachthaus.
Das Hamburger Kulturzentrum Kampnagel ist nur selten Ort für Figuren- und Objekttheater. Ausnahme: das Internationale Sommerfestival, alljährlich kuratiert von András Siebold. Hier kommen immer mal wieder Puppenstücke zur Aufführung, meist im Zuge von langjährigen Arbeitsbeziehungen, wie sie Siebold mit dem kanadischen Musiker und Puppentheater-Erneuerer Socalled unterhält. Oder mit Gisèle Vienne, längst eine der europaweit wichtigsten Theatermacherinnen zwischen Tanz und Schauspiel, die freilich einst an der Ecole Supérieure Nationale des Arts de la Marionette zur Puppenspielerin ausgebildet wurde. Beim Internationalen Sommerfestival zeigte sie bislang extrem unterschiedliche Arbeiten, von „The Ventriloquists Convention“ (2015) in Zusammenarbeit mit dem Puppentheater Halle bis zur Rave-Choreografie „Crowd“ (2017), die mit Puppenspiel auch im weiteren Sinne praktisch nichts mehr zu tun hatte.
Auf den ersten Blick zählt „Der Teich“ eher zur letzteren Kategorie. Zwar prägen die Puppen das beunruhigende Eröffnungsbild, dann aber dröhnt ohrenbetäubender Eurodance (Musik: Stephen F. O’Malley) über die Szene, und die Puppen werden geschäftsmäßig, aber beinahe fürsorglich weggeräumt. Adèle Haenel, nicht nur in Frankreich als Kinostar gefeiert, und Ruth Vega Fernandez übernehmen – man sieht also Schauspiel, kein Figurentheater. Eine konsequente Entscheidung nach dem Tod der ursprünglich als Protagonistin besetzten Puppenvirtuosin Kerstin Daley-Baradel, der das Stück posthum gewidmet ist. Mit Wissen um diese Geschichte der Produktion, erklärt sich die Emotion, die das liebevolle Wegräumen der Puppen auslöst.
Was Haenel und Fernandez nun machen, hat wenig mit Rollenverkörperung zu tun. Erzählt wird die Geschichte des Jungen Fritz, der sich ungeliebt von seinen Eltern fühlt und schließlich einen Suizid vortäuscht, um so Zuneigung zu provozieren – und insbesondere Haenel spielt das, indem sie aus ihrem Körper tritt, ihre Stimme verzerrt und loopt und so eine Entpersonalisierung vollzieht. Die unnahbare Mutter scheint diesen Akt bereits vollzogen zu haben. Am Ende ist der Schauspielerinnenkörper selbst leb- und gefühllose Puppe, die sich in immer extremere Situationen manövriert, um wenigstens noch ein bisschen Emotion herzustellen. Und die von einer detailgenauen Regie geführt wird wie eine Marionette.
© Estelle Hanania
Haenel stellt diesen seelischen Alptraum reduziert dar, mit enervierender Langsamkeit. „Nichts kann ich recht machen“, resümiert ihr Fritz einmal sein Dasein mit kaltem Realismus: Alles ist Schmerz, alles ist Mühen, und Fernandez rettet die Hilflosigkeit der Elterngeneration fatalerweise in die Souveränität des Gefühlstodes. Kaum auszuhalten ist diese Performance, und nur die theatrale Qualität des Abends, der kunstvolle Zugriff der Regisseurin auch hinsichtlich eines raffinierten Sound- und Lichtkonzepts sorgen dafür, dass man „Der Teich“ mit einigem Gewinn genießen kann – als Puppentheater, bei dem die Puppen schon nach der ersten Szene von der Bühne entfernt werden.
Wenn Gisèle Vienne die Leblosigkeit von Puppen auf ihre Schauspielerinnen überträgt, dann geht Miet Warlop den umgekehrten Weg: Das Objekttheater der belgischen Künstlerin versammelt Mischwesen, Konstruktionen und Requisiten, in die Leben eingehaucht wurde. Und die mit diesem Leben nicht wirklich etwas anzufangen wissen.
Auch Warlop ist regelmäßiger Gast beim Internationalen Sommerfestival, Stücke wie „Mystery Magnet“ (2012) „Fruits Of Labor“ (2016) oder „Big Bears Cry Too“ (2018) waren schmerzhaft-lustvolle Auseinandersetzungen mit Ver- und Zerstörung, die ganz nebenbei auch die (im Figurentheater immer schon fließenden) Grenzen zwischen Erwachsenen- und Kinderstücken auflösten. „Big Bears Cry Too“ etwa war explizit für Kinder angekündigt, am Ende aber wurden Bühne wie Bühnenpersonal dann doch wieder aufs Herzhafteste drangsaliert.
Warlops diesjähriger Beitrag „After All Springville“ ist eine Neufassung des zwölf Jahre alten Stücks „Springville“. Menschen und Mischwesen treffen da in einer stilisierten Vorgartenumgebung aufeinander, versuchen irgendwie miteinander Kontakt aufzunehmen und scheitern drastisch. Ein vorwitzig-niedliches Kartongeschöpf wird entmannt, einem riesigen Sportler werden Kopf und Arme abgetrennt, Körper stürzen durch geschlossene Fenster, und ein wandelnder Sicherungskasten freut sich zunächst, dass es in seinem Inneren hübsch qualmt und blitzt, bis er schließlich einen Kurzschluss erleidet und fortan leblos in der Ecke liegt. Freude und Tod liegen in diesem Theater nah beieinander, und die Brutalität, mit der Warlop diese Nähe an ihren Objekten auslebt, findet ihre Entsprechung in einem kindlichen Blick, der sich nach Harmonie sehnt und gleichzeitig zerstören will.
© Miet Warlop
Die Zerstörung jedenfalls kommt in „After All Springville“ unvermeidlich. Die Interaktion zwischen Performer*innen und Objekten kommt zum Stillstand, das Bühnenbild zerfällt, und riesige Luftschlangen nieten alles um, was noch steht. In dieser so ausgeklügelten wie destruktiven Schlussvolte erkennt man, dass Warlop eigentlich von der Bildenden Kunst kommt: Sie baut Eskalationsmaschinen, an deren Ende kein fertiges Objekt steht, sondern im Gegenteil das absolute Chaos. Diesem Chaos bei seinem zerstörerischen Werk zuzusehen, ist allerdings überaus lustvoll. Womit Warlops Schlussbild in seiner Mischung aus Auflösung, Melancholie und Lust auf eigenartige Weise mit Gisèle Viennes Eröffnungsszene korrespondiert.
Der Teich
Nach Robert Walser
Konzept, Regie, Dramaturgie, Bühne: Gisèle Vienne
Mit: Adèle Haenel & Ruth Vega Fernandez
Licht: Yves Godin
Musikalische Leitung: Stephen F. O’Malley
Sounddesign: Adrien Michel
Originalmusik: Stephen F. O'Malley, François J. Bonnet
Tour-Assistentin: Sophie Demeyer
Outside view: Dennis Cooper & Anja Rottgerkamp
Französische Übersetzung: Lucie Taïeb
Basierend auf der deutschen Übersetzung von: Händl Klaus & Raphael Urweider (éd. Suhrkamp Verlag, 2014)
Mitarbeit Szenografie:Maroussia Vaes
Konzeption der Puppen: Gisèle Vienne
Kreation der Puppen: Raphaël Rubbens, Dorothéa Vienne-Pollak & Gisèle Vienne in Zusammenarbeit mit dem Théâtre National de Bretagne
Bühnenbildproduktion: Nanterre-Amandiers CDN
Set und Accessoires: Gisèle Vienne, Camille Queval & Guillaume Dumont
Kostüme:Gisèle Vienne, Camille Queval & Pauline Jakobiak
Perücken und Make-up-Künstlerin: Mélanie Gerbeaux
Technischer Leiter: Richard Pierre
Tontechnikerin: Adrien Michel & Mareike Trillhaas
Lichtmanager: Iannis Japiot & Samuel Dosière
Stagemanager: Antoine Hordé
After All Springville
Von Miet Warlop
Konzept und Regie: Miet Warlop
Performance: Hanako Hayakawa / Margarida Ramalhete, Winston Reynolds, Myriam Alexandra Rosser, Milan Schudel, Wietse Tanghe / Freek De Craecker, Jarne Van Loon
Kostüm: Sofie Durnez
Beratung Licht Design: Henri Emmanuel Doublier
Technische Koordination: Bennert Vancottem
Technisches Team: Eva Dermul, Jurgen Techel
Produktion: Miet Warlop / Irene Wool vzw
Gisèle Vienne: „Der Teich“ & Miet Warlop: „After All Springville“
Ja, Annette Dabs Erwiderung erklärt natürlich einiges. Und daß hier verschiedene Meinungen nebeneinander stehen dürfen, ist auf jeden Fall gut. Das sollte sich entwickeln. Daß es hier so wenige Kommentare gibt, ist vielleicht eine Folge dessen, daß sachliche Kritik - die m.E. auch mal scharf werden kann - lange in der Puppenbranche ähem... unüblich war. Und auch mal sehr spürbare Folgen haben konnte.
Ich hätte mich zur "!puppenspielfreien" Arbeit von Gisèle Vienne wohl kaum geäußert, wenn es Ausnahme wäre. Aber lange Zeit war sowas ja NORMALITÄT in der Puppenspielszene. Gelder ua. für Puppenspiel wurden p e r m a n e n t für Puppenspielfreies benutzt usw.. Darüber könnte man inzwischen ein dickes Buch schreiben.
Weiteres dazu: https://generalanzeiger-waschinsky.de/index.php/blumen-und-tomaten/499-jugend-voran
Übrigens hat mich UNIMA-Generalsekretär Dadi Pudumjee diesbezüglich kürzlich bestätigt.
Antwort auf Kommentar vom 19.10.2021
Annette Dabs
Gisèle Vienne: „Der Teich“
THEMA VERFEHLT!
Was soll hier ein Bericht über eine Ex-Puppenspielerin, die puppenspielfrei arbeitet - seit Längerem, also de facto grundsätzlich?
Ich habe mal in einer Tanzpantomime zum renommierten Bachfest J.S. Bach höchstselbst mimisch dargestellt (habe früher eine entspr. Zusatzausbildung absolviert) und beste Noten bekommen, aber keinem fiel ein, das als Weiterentwicklung eines Puppenspielers zum Höheren zu bewerten.
Wenn Gisèle Vienne dauerhaft zum Puppenspiel nichts mehr einfällt, gehört sie eben nicht mehr dazu, Punkt, aus. So wird doch unsicheren Puppenspielern wieder nur suggeriert, daß sie Schauspiel machen müssen, um aufzusteigen.
Kerstin Daley-Baradels Tod war wirklich ein Verlust, in „The Ventriloquists Convention“ ("Bauchrednertreffen", 2015) war sie absolut großartig. Ihr ein Stück zu widmen, sollte gewürdigt werden, aber nicht mit einer Rezension dieses PUPPENSPIELFREIEN Stückes in einem Puppentheaterportal.
Das fördert eben grade NICHT die ästhetische Toleranz, sondern letztlich nur die Beliebigkeit.