Puppentheater Gera: „Seide“
Das Ende der Welt
Alessandro Bariccos Roman „Seide“, der schnell international zum Bestseller wurde, ist stilistisch auffällig. Er ist ein Experiment im Minimalismus, von Leichtigkeit und Transparenz bestimmt, so dass der Text dem Stoff ähnelt, der im Mittelpunkt steht: Seide. Die Sprache, die Tobias Goldstab in die Bühnenfassung transportiert, zeigt – vielleicht gerade wegen des Minimalimus – eine poetisch-dichte Beschreibungsebene. Das verdeutlichen schon die Eingangsworte, die Protagonist Hervé Joncour charakterisieren: Er gehört zu jenen „Menschen, die dem eigenem Leben gern beiwohnen, während sie jegliches Bestreben, es zu leben, für unangebracht halten.“
Baldabiou ist derjenige, der Joncours Leben regelmäßig ordnet, seine Pfade neu ausrichtet. Der analytisch Vorausdenkende taucht plötzlich auf und zeigt im wahrsten Sinne des Wortes die größte Beweglichkeit und auch die größte Souveränität: Gern lehnt die gebeugte Figur mit dem bleichen Gesicht lässig an der Wand, die Hand des Spielers unterstützt seine Pose.
Seide mag ein leichter und bequem zu tragender Stoff sein, ein dichtes Nichts, der Stoff ist aber nicht leicht herzustellen. Für Joncour, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit seiner Frau in einer südfranzösischen Stadt lebt, bedeutet es längere Reisen, um die Eier der Seidenspinner zu beschaffen. Als eine Seuche umgeht, muss er bis ans „Ende der Welt“, nach Japan, damit die Seidenherstellung weitergehen kann, von der sein Ort mittlerweile abhängt. Somit kommen Exotismus und Fremde in die Geschichte, die gleichzeitig faszinieren und ängstigen.
Die während der langen Reise durchmessenen eurasischen Landmassen entfalten sich in einer Videoprojektion im Bühnenhintergrund, bis eine rote Sonne die Ankunft in Japan anzeigt. Der Provinzfürst, den Joncour hier trifft, ist in Begleitung einer stillen Frau mit – so wird immer wieder betont – unasiatischen Augen, beide bestehen in erster Linie aus emblematischen Köpfen, deren Gesichter geradezu maskenhaft wirken. Entsprechend weit oben gehalten wallen ihre Gewänder zu Boden, entsteht durch die Anmutung der Lebensgröße der Figuren ein Bezug zur japanischen Puppentheatertradition. Das Kleid der Frau ist rot wie die Sünde und Joncour verliebt sich.
Ein Netz bunter tirilierender Vögel dominiert streckenweise die Bühne, sphärisch-abstrakte Klänge wechseln sich mit dem für Frankreich stehenden Akkordeon ab. Minimalismus bedeutet auch Wiederholung und so werden die wiederkehrenden Besuche in Japan mit ebenso wiederkehrenden Worten und Handlungen begleitet. Japan ist eine Projektion, das südfranzösische Städtchen nicht minder, die imaginierte Beziehung zur schönen Unbekannten in der Ferne mag Spiegel oder Metapher für die Ehe und die einsame Gattin in der Heimat sein. Joncour, der seiner Stadt einen Park bauen will, plant dort eine Voliere, bei einer Rückkehr nach Frankreich scheint er im Vogelkäfig gefangen.
Fröhlich tanzt ein doppelter Joncour in einer Szene mit sich selbst: Puppe und Spieler bewegen sich Arm in Arm, der Text weiß, dass der Mensch gleichzeitig ekelerregend und wundervoll ist. Nicht nur hier zeigt sich die große Kunst von Lutz Großmann und Sabine Schramm, behände zwischen den verschiedenen Rollen zu wechseln, mal Spieler, mal Schauspieler, mal Erzähler zu geben.
Die Videosequenzen im Hintergrund der niemals üppig ausgestatteten Bühne zeigen sanft schäumendes Wasser, während Joncour sich im Bad befindet, an anderer Stelle – wieder einmal – bunt-papierne Vögel oder – während einer rauschhaften Nacht in Japan – tanzende Menschen. Zwischendurch zwinkern die Augen der Unbekannten. Während Baldabiou die Zukunft plant, ist der Bühnenraum nüchtern-sachlich und schwarz. Als in Japan Krieg herrscht, ziehen die Bewohner im Hintergrund als Flüchtlingstreck von Scherenschnitten durch eine schwelende Trümmerlandschaft.
Nun meint Joncour tatsächlich das Ende der Welt gesehen zu haben und das Netz für die Vögel in düsterer Kulisse bleibt unbewohnt. Steif und ungespielt sitzt er in der Raumesmitte, während seine Geschichte zu Ende erzählt wird. Stumm wohnt Joncour seinem Leben bei.
Premiere: 5. März 2016
Mit: Lutz Großmann, Sabine Schramm
Inszenierung: Holk Freytag
Bühne: Christian Werdin
Figuren, Kostüme: Sylvia Wanke
Musik: Olav Kröger
Video: René Grüner
Dramaturgie: Tobias Goldfarb
Foto: Sabina Sabovic