Die aktuelle Kritik

Figurenkombinat & Christian Müller: "D3R 54NDM4NN"

Von Brigitte Jähnigen

Was hat klassische Literatur mit Sexpuppen zu tun? Inspiriert von E. T. A. Hoffmanns fantastischer Erzählung „Der Sandmann“ entwickeln das Figurenkombinat & Christian Müller eine Inszenierung über das Verhältnis Mensch-Maschine, Sehnsucht und Verstand, Fantasie und Wirklichkeit.

Lärmende Musik dröhnt hinter dem Folienvorhang. Rotierende Körper werden schemenhaft wahrgenommen. Eine Frauenstimme aus dem Off verstärkt die Kakophonie. Und dann – unvermittelt – ein harter Schlag. Die Folie reißt. Eine szenische Versuchsanordnung beginnt. E. T. A. Hoffmanns literarische Lust an bis zum Wahnsinn getriebenem Fabulieren gab Anregung für die Produktion von Figurenkombinat & Christian Müller zur Spielzeiteröffnung im Figurentheater Stuttgart. Erzählt wird in wechselndem Rhythmus aus Spielszenen, sachlich vorgetragenen Informationen, klangvollen literarischen Zitaten und manchmal etwas holpriger Alltagssprache die 200 Jahre alte Nachtgeschichte vom Sandmann, versetzt mit Sequenzen, in denen eine künstliche Puppe die Hauptrolle spielt.

Und das erlebt das Publikum: Esther Falk und Simon Kubat rufen in historisierenden Kostümen Hoffmanns Phantasmen auf. Sie zerquetschen symbolhaft Tomaten und künstliche Augen, deuten Kindesmissbrauch und seelische Deformation an. In Videoeinspielungen stellt die Kulturwissenschaftlerin Sophie Wennerscheid (sie forscht über das Begehren zwischen Mensch und Maschine) die Frage, ob Männer sich Sexpuppen kaufen, um der Einsamkeit zu entgehen oder sich an ihnen sexuell abzuarbeiten. Weibliche Positionen zur Sexpuppennutzung sind nicht angefragt. So kommt die Sexpuppe Gaelle lediglich als männliche Projektionsfigur ins Spiel. Eine weibliche Puppe aus thermoplastischem Elastomer. 38 Kilogramm schwer, 172 Zentimeter groß, tadellos im Wuchs, fein in den Gesichtszügen, gleichbleibend freundlich lächelnd. Auf einen Tisch gewuchtet, untersuchen die beiden Figurenspieler in lässig-sportlicher Garderobe das Objekt der Begierde, das in diesem Kontext eher ein Objekt der Neugier ist. Und das wird ziemlich konkret: Aus Vagina und Anus fischen sie Botschaften.

Erinnert wird an Klara und Nathanael, das Liebespaar aus Hoffmanns „Sandmann“. Erzählt wird vom Ringen Klaras um den Bräutigam, als dessen Werbephase schon ins Finale geht. Esther Falk, die vorher noch Hoffmanns Klara gab und Simon Kubat, der Nathanael spielte, rücken die Puppe ins zentrale Geschehen. Sie ist eine neue Version von Hoffmanns Automatenpuppe Olimpia, die Geheimnisvolle, die Faszinierende, Heilige und Hure, die klassische männliche Projektion auf eine alltagstaugliche und zugleich heiß begehrte Frau. Eine, die still hält, eine ohne Widerspruch. Bühnendialoge zwischen Mensch und Puppe gipfeln in der Aussage: „Ich liebe dich, weil wir immer einer Meinung sind“. Da darf dann auch mal gelacht werden im amüsierten Publikum. Sinnlichkeit aber kommt selten von der Bühne in die Zuschauerreihen. Das mag auch daran liegen, dass die Produktion (Puppenregie Maik Evers, Gesamtregie Christian Müller) mit Monologen und Dialogen über Traumdeutung, Unterbewusstsein, Machtmissbrauch, Rollen- und Genderbilder inhaltlich überfrachtet wirkt.

Ist die Zukunft des Begehrens wirklich ganz selbstverständlich der schamfreie spielerische Umgang mit Sexspielzeug, wie Sophie Wennerscheid aus Literatur und Filmen meint, herausgefunden zu haben? Oder sind frühe Prägungen durch Prüderie oder Hemmungslosigkeit noch immer Ursache für seelische Verformungen? Folglich Sexpuppen eine Mindervariante für erotische Begegnung? Die Inszenierung, die sich an Zuschauer ab 16 Jahren richtet, stellt genügend Fragen. Antworten muss das Publikum selbst finden.

 

Spielsaisonauftakt im Figurentheater Stuttgart: Frei nach E.T. A. Hoffmann „D3R 54NDM4NN“

Premiere: 24. September 2021

Weitere Vorstellungen: 7., 8. und 9. Oktober 2021, jeweils um 20:30 Uhr

Fotos: Dominique Brewing

Infos und Tickets unter: https://www.fitz-stuttgart.de/stueck/d3r-54ndm4nn/

Koproduktion mit dem FITZ
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