Theater Waidspeicher, Erfurt: “Fräulein Smillas Gespür für Schnee"
Die Nachbarin und große Freundin des kleinen Jungen glaubt, auf dem Hausdach Spuren im Schnee entdeckt zu haben. Sie spürt, da gibt es ein Geheimnis, eine verborgene Geschichte, warum Jesaja sterben musste. Sie rollt den Fall auf, begibt sich auf Spurensuche. Sie ist selbst eine Inuk, hat ihre Kindheit in Grönland verbracht. Sie kennt die verschiedenen Zustände von Eis und Schnee.
Das Theater Waidspeicher in Erfurt wagt sich nach zwei Jahren Pandemie-Pause wieder an eine große Ensemble-Inszenierung. Gastregisseur Frank Alexander Engel bringt eine Fassung (von Andreas Harwath) des Weltbestsellers „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“ auf die Puppentheaterbühne. Das Buch von Peter Høeg, veröffentlicht 1992, ist ein literarischer Geniestreich: ein Thriller, eine Detektivgeschichte, eine Lovestory, eine radikale Gesellschaftskritik an Umweltzerstörung und Profitgier. Vor allem aber ist es ein Roman mit großen, beeindruckenden poetischen Bildern.
Dem berühmten Roman folgen der bekannte Film von Bille August 1997 und in Deutschland eine Bühnenfassung von Armin Petras und Juliane Koepp, 2007 uraufgeführt am Hamburger Thalia Theater in der Regie von Petras. Im Erfurter Theater Waidspeicher konzentriert sich Regisseur Engel auf die Kriminalgeschichte, die Aufklärung des komplexen Falles durch Fräulein Smilla.
"Fräulein Smillas Gespür für Schnee" © Lutz Edelhoff
Wie funktioniert das mit Puppen, in diesem Fall mit Tischpuppen? Sie werden von fünf Spielerinnen und Spielern in offener Spielweise auf dem hohen, langen, schmalen Tisch geführt. Die weißen Gesichter ähneln sich irgendwie. Im Falle von Fräulein Smilla könnten sie die Gesichtszüge der Puppenspielerin Karoline Vogel tragen. Der Zuschauer hat Mühe, Feinheiten der ca. 60 Zentimeter großen Figuren und der Kostüme (von Kerstin Schmidt und Frank Alexander Engel, auch Bühne) mit der zunehmenden räumlichen Distanz zur Bühne zu erkennen.
Der hohe Tisch als Spielfläche ist mal Wohnung, Archiv, Museum, Kasino, Schiff und Eishöhle. Auf einer Panoramawand im Hintergrund werden Orts- und Zeitangaben elektronisch eingeblendet, manchmal rieselt virtueller Schnee. Sound und Musik (von Sebastian Herzfeld), Lichtwechsel und Düsternis sorgen für Spannung, die einen guten Krimi ausmacht.
Fräulein Smilla ist eine liebenswürdige Frau. Genauso spielt und spricht Karoline Vogel. Ihre Tonalität ist gleichbleibend beiläufig neugierig. Die Puppe „vergisst“ man hinter der Spielerin und Erzählerin. Diese Smilla Jaspersen ist zu glatt, zu eindimensional, viel zu liebenswürdig. Der Polizeibeamte Ravn ist bestens über Smillas gebrochene Biografie im Bilde: nicht abgeschlossenes Studium, Wissenschaftlerin, Aktivistin, Gesetzesbrecherin. Peter Høeg zeichnet im Roman ein sehr viel differenzierteres Bild von der harten und zerbrechlichen Seite Smillas, die selbst physische Gewalt ausübt und ertragen muss.
"Fräulein Smillas Gespür für Schnee" © Lutz Edelhoff
Tomas Mielentz muss vier unterschiedliche Figuren und Charaktere lebendig werden lassen, manchmal im schnellen Wechsel. Der zwielichtige Ravn, der snobistische Vater Smillas, der blinde Eskimo-Experte Licht, der grausam ermordet wird, der verschlagene, geldgierige Hviid, der zu einem Eiszapfen gefrieren wird. Ob jede*r Zuschauer*in (ohne Buchlektüre) die schnellen Wechsel der Figuren und Identitäten in der komplexen Geschichte immer nachvollziehen kann?
Paul Günther versucht zu stottern, wie im Roman der Mechaniker Peter Føjl, ein undurchsichtiger Typ. Er ist im Netzwerk der zehn voneinander abhängigen Menschen ein besonderer Fall: Nachbar Smillas, Retter in höchster Not, Liebhaber, nützlicher Idiot. Kathrin Blüchert spielt drei Nebenrollen. Die ehemalige Buchhalterin Fräulein Lübing ist ein Klischee von Korrektheit und Gottesfürchtigkeit bis ins Kleid mit aufgenähtem Kreuz. Maurice Voß hat mit dem ständig besoffenen Kasinobesitzer Lander eine kleine Rolle. „Ach, Schätzchen“ kann er so schön schmachten.
Die Kriminalgeschichte geht auf der Puppenbühne im Erfurter Waidspeicher so aus wie im Roman von Peter Høeg. Das Eis kann man nicht besiegen. Fräulein Smilla findet nach Hause. Nur wo liegt das?
Premiere: 25.02.22
Regie: Frank Alexander Engel; Bühne, Puppen, Kostüme: Kerstin Schmidt und Frank Alexander Engel; Musik und Sound: Sebastian Herzfeld; Es spielen: Karoline Vogel, Kathrin Blüchert, Paul Günther, Tomas Mielentz, Maurice Voß
Fotos: Lutz Edelhoff
Nächste Vorstellungen: 01.03. | 08.03. | 11.03. | 05.04. | 12.04. | 16.04.2022
www.waidspeicher.de