Die aktuelle Kritik

gbr für unerhörte dinge, Berlin: „sans papiers“

Von Barbara Fuchs

Politisch herausforderndes Objekttheater mit verblüffenden Spielideen. Für alle ab 8 Jahren nach dem Bilderbuch „Der geheimnisvolle Koffer von Herrn Benjamin“ von Pei Yu Chang. Eine Koproduktion mit der Schaubude Berlin und dem Théâtre de Cuisine Marseille.

Das Thema Fluchthilfe für Menschen ohne gültige Papiere ist noch immer politisch umkämpft. Pei Yu Chang, Germanistin und Illustratorin, hat sich mit einem Bilderbuch positioniert, in dem sie die Flucht des Philosophen Walter Benjamin und der Widerstandskämpferin Lisa Fittko 1940/41 vor dem Hitler-Regime so klar erzählt, dass auch für Kinder erlebbar wird, dass Humanität und Solidarität zusammengehören. Ein Buch ohne Belehrung, das ein Geheimnis in den Mittelpunkt stellt: was wohl in dem Koffer drin war, den Walter Benjamin unbedingt über die Grenze retten wollte. Diese Frage steht auch im Zentrum der Inszenierung, die Franziska Burnay Pereira und Sophie Bartels mit ihrem Team entwickelten. Die Arbeit begleitet Walter Benjamin und Lisa Fittko nach ihrer Flucht aus Berlin über Paris und Marseille bis zu dem kleinen Grenzdorf Port-Bou auf der Südseite der Pyrenäen.

 

Die Bühne ist mit weißen Papierbahnen ausgekleidet. Das Papier lässt sich einrollen, ausrollen, zusammenfalten und ist Fläche für Projektionen. Es schafft Räume, Straßen von Berlin, Paris oder Marseille, Anfang und Ende. Die Performerin Sophie Bartels, mit weißer Bluse und schwarzer Trägerhose bekleidet, tritt leise auf, rückt hier und da ein Papier zurecht. Unsicher fragt sie, wie man wohl die Geschichte von einem Ding erzählen kann, das man nicht kennt und das es nicht mehr gibt. Sie reckt ihre Arme mit einem großen Papier in die Höhe, auf das ein Koffer projiziert wird und fragt: Was war da drin?

 

Es ist ein wahrer Balance-Akt, wie Sophie Bartels behutsam auf Interaktion und Spannung bei den Kindern setzt und zugleich mit Informationen über Walter Benjamin und Lisa Fittko und immer wieder eigenen Reflektionen Denkanstöße gibt. Ihr Spiel mit Objekten, das groß projiziert wird, regt zu Assoziationen und Emotionen an und lässt nach und nach Porträts von Lisa Fittko und Walter Benjamin entstehen. Walter Benjamin stellt sie als einen der wichtigsten Philosophen, Denker und Schriftsteller vor, der Theorien über die neuen Medien - Fotografie, Rundfunk, Film – entwickelte und der Kinderliteratur und Spielzeug sammelte.

 

Die Geschichte beginnt in Berlin, Benjamins Geburtsstadt. Bartels rollt eine Papierbahn auf und zitiert aus Benjamins „Berliner Kindheit um neunzehnhundert“, woran er im Pariser Exil immer wieder gearbeitet hat. „Mein Berlin und euer Berlin“ “ ergänzt sie und formuliert selbstbewusst eigene Erfahrungen: leere Fabriken, ehemalige Grenzübergänge und stillgelegte Flugfelder. Mit einem Ventilator wirbelt sie uns den geschlossenen Flughafen Tempelhof ins Gedächtnis und erinnert an die Gegenwart des Vergangenen, ehe sie Lisa Fittko vorstellt, die sich hier schon in jungen Jahren als Widerstandskämpferin organisierte. Kraftvoll hämmert Sophie Bartels auf die Tasten einer Schreibmaschine. Die beschriebenen Blätter stehen als Zeichen für antifaschistische Flugblätter, die Lisa in Berliner Treppenhäusern und Briefkästen verteilte, weshalb sie später fliehen musste. Bartels setzt eine kleine Spieluhr in Gang und lässt in zarten Tönen „Die Internationale“ erklingen.

 

Wenn ein Schachbrett in den Blick rückt, stehen auf einer Seite Bücher, auf der anderen Streichholzschachteln, aus denen Zündköpfe herausragen. Ein schneller, ungleicher Kampf und alle Bücher sind aus dem Feld geschlagen. Beklemmende Erinnerung an die Bücherverbrennungen ab Mai 1933 in deutschen Städten.

 

Walter Benjamin hatte als jüdischer, linker Intellektueller keine Möglichkeiten mehr, in Deutschland zu publizieren. Im März 1933 ging er ins Pariser Exil – auf der Bühne angedeutet mit Mini-Eiffelturm und aufgeschlagenem Buch. Dort begegnete er Lisa Fittko. Sie mussten leise sprechen, denn Deutsch galt als Sprache des Feindes. Ein Radio war die Verbindung zur Welt. Doch wer es einschaltete, riskierte viel, kommentiert Sophie Bartels. Nach dem Einmarsch der Deutschen gingen viele Geflüchtete in den Süden Frankreichs. In Marseille trafen sich Fittko und Benjamin wieder. Bei der Präfektur warteten sie auf Ausreisepapiere. Sophie Bartels wechselt ins Schauspiel und übernimmt die Rolle des Beamten, der über Schicksale entscheidet. Mit Fingerfertigkeit und variantenreichen Dialogfetzen zeigt sie ihr Können als Puppenspielerin. Mindestens zwölf Stempel lässt sie als Bittsteller auftreten, die im nächsten Moment mit lauter Wucht wieder stempeln: Ablehnung und selten Genehmigung.

 

Fittko und Benjamin blieben sans-papiers, Menschen ohne Papiere. Doch Lisa gab nicht auf. In einer kleinen Stadt in den Pyrenäen suchte sie Hilfe beim Bürgermeister. Für diese Szene formt Sophie Bartels aus Papier eine Figur, der sie Habitus und Stimme des Bürgermeisters verleiht. Der ist solidarisch. Vom Mut der Lisa Fittko beeindruckt, versucht er sie als Fluchthelferin zu gewinnen. Benjamin gehörte zur ersten Gruppe, die Fittko über die Grenze bringen wollte. Als er verspätet mit einem schweren Koffer ankam, fragten sich alle, wie er den über das Gebirge schaffen wolle. Es ist anrührend und durch Lisa Fittko überliefert, dass Walter Benjamin nicht bereit war, den Koffer zurückzulassen, weil der Inhalt ihm wichtiger sei als sein eigenes Leben. Auch Lisa hat den Koffer getragen. Doch oben auf dem Berg, kurz vor dem Grenzort Port-Bou, musste sie umkehren.

 

Wie ging es weiter? Sophie Bartels macht einen Zeitsprung ins Jahr 2020 und nimmt uns mit auf den Fluchtweg, wo sie und Freundin Polly (gemeint ist Franziska Burnay Pereira) abwärts durch Geröll Benjamins Mühsal mit allen Sinnen nachvollziehen wollten. Ein schönes Anliegen. Doch wie schade, die Chance für eine weitere Annäherung an Walter Benjamin wurde auf dieser Wegstrecke nicht ergriffen. In Port-Bou angekommen, standen die beiden vor dem kleinen Haus, in dem Walter Benjamin das letzte Mal gesehen wurde. „Er war weg und mit ihm sein Koffer, der ihm so wichtig war.“

 

In der letzten Szene lässt Sophie Bartels aus Papierstreifen Meereswellen entstehen. Segelboote schwimmen im Sonnenschein davon. Bilder der Zuversicht oder ungeschützte, illegale Boote? Ambivalenz der Assoziationen. Die Dramatik von Walter Benjamins Exiljahren in Frankreich und das schmerzliche Scheitern seiner Flucht, das ihn am 27. September 1940 in Port-Bou zum Freitod trieb, wurde nicht thematisiert. Lisa Fittko hat noch vielen Menschen das Leben gerettet, bis sie selbst 1941 nach Kuba geflohen ist. Sophie Bartels hat die Geschichte und ihr Fortwirken in Gegenwart und Zukunft ernsthaft und mit spielerischer Leichtigkeit nahegebracht. Am Schluss wird sie von Kindern einer 6. Klasse umringt. Alle wollen wissen: „Was war im Koffer drin?“ Alle haben eigene Ideen. Ein Mädchen ist sich sicher: „Darin war ein Weltfriedensplan.“ Ein engagiertes Projekt, das die Lust zum Nachforschen anregt.

 

Foto: Gianmarco Bresadola

Premiere: 01.10.2020 in der Schaubude Berlin
Konzeption, Spiel: Sophie Bartels
Regie; Konzeption: Franziska Burnay Pereira
Künstlerische Beratung: Katy Deville (Théâtre de Cuisine)
Bühne, Kostüme: Camille Lacadée, Shahrzad Rahmani
Gefördert aus den Mitteln des Hauptstadtkulturfonds
Unterstützt von: Aktives Museum, Goethe-Institut, Jüdisches Museum Berlin, Walter Benjamin Archiv Berlin / Akademie der Künste

1 Kommentar
Peter Waschinsky
24.02.2021

gbr für unerhörte dinge, Berlin: „sans papiers“

Ein Stück mit Objekten über ein nicht so bekanntes jüdisches Schicksal in der Nazizeit. Bravo! Nicht gezeigt wurde dagegen an der SCHAUBUDE leider eine oder gar - wie naheliegend - alle drei Puppenspielversionen nach Annette Leos Buch “Das Kind auf der Liste” über das “andere” Buchenwaldkind Willy Blum, als Sinto in Auschwitz ermordet. DESHALB nicht gezeigt, weil Sinti = “Nebenopfergruppe”? Oder aber - Willy Blum war Sohn einer Puppenspielerfamilie - weil für die Objekt-orientierte Schaubude zuviel Puppenspiel drin war? Oder wegen des bösen Z-Wortes (auf dem allerdings zahlreiche Angehörige der Ethnie bestehen) im Titel meiner Version “Zigeunerleben oder der Bär im ZK”? Die steht jedenfalls jetzt auf youtube  https://www.youtube.com/watch?v=3mHddhrFOW8

Neuer Kommentar