Die aktuelle Kritik

Progranauten: "OO-DE-LALLY"

Von Andreas Herrmann

Die Progranauten servieren ihren wilden Waldwalk frei nach Robin Hood als Theaterfilm im Netz. Welche unheimlichen Kreaturen sich darin tummeln, hat Andreas Herrmann festgehalten.

Tja, wie nennt man dieses hochkomplexe wie tiefbeeindruckende Erlebnis? „OO-DE-LALLY“ ist weder Inszenierung noch Performance oder eine der derzeit üblichen Netzfilmchen gegen das Vergessen der darstellenden Zunft. Vielleicht: ganzheitliches Subjekttheater? Aber das klingt ein wenig zu sehr nach Selbsthilfegruppe. Die Progranauten liefern mit ihrer mittlerweile zehnten Produktion genau das Gegenteil davon: eine so aufwändig wie eigenwillig verfilmte Performance, in der jedes einzelne Element für sich funktioniert, aber zusammengenommen durchaus mehr als die Summe der einzelnen Teile ergibt.

Es geht ins Reich von Nottinghams Sheriff, also in jene Art von Wald, die jede gute Räubergeschichte als Kulisse ziert und im Falle Robin Hoods seit über sechs Jahrhunderten als lebende Legende weitergestrickt wird: Wilde Gesellen tummeln sich jenseits der Gesetze wie Sitten und ärgern gern Reiche wie Mächtige. Beim britischen Hood sind es überlieferte Balladen, ebenso wahrhaftig wie unsere Grimm'schen Märchen, aber durchaus mit sozialethischem Anspruch und ohne die Moralkeule.

Bei einer Premiere am traditionellen Kampftag der Arbeiterklasse anno 2021, einst als Moving Day von Australien über Nordamerika gen Europa geschwappt, darf man schon echte Arbeit erwarten. Ganz ohne Zweifel hätte man dabei gern die erste Option, den leibhaftigen Waldact gewagt – oder den Audiowalk. Auch jenes Spiel vor ungenutzten Schaufenstern in Bochums Innenstadt. All das hatte das Theaterkollektiv um Josefine Rose Habermehl und Ulrike Weidlich, das sich 2012 gemeinsam mit Andrea Kurz-Richarz in Bochum gründete und seit 2016 fest mit Kathlina Anna Reinhardt als Ausstatterin, Helene Ewert als Produktionsdramaturgin und Moritz Bütow als Technischer Leiter assoziiert ist, situationsbedingt nacheinander ins Auge gefasst.

Räuberische Gerechtigkeit

Nun ist es ein sinnlicher Film geworden – ein Spiel im Wald, rings um die textlich traditionell gehaltenen, eher sperrigen Balladen. Und da die Geschichte, im Hier und Jetzt spielt, geht es um den gemeinen Alltagswiderborst im endzeitzuckenden Turbokapitalismus, recht entschleunigt im Wald getanzt – tiefgrüne Assoziationen zur Besetzung vom Hambacher Forst oder gegen diverse Autobahnrodereien liegen nahe.

Wie gewohnt verstärken sich die Progranauten für jede Produktion mit dem passenden Personal, hier sind es vier wortlose Spieler, wobei ein jeder, nach einer schrägen Ansage und zwei gemeinsamen Episoden als Pro- wie Epilog, seine lange Szene hat – umwoben von je einem jener atmosphärischen Songs – von Sebastian Appelhoff und Torsten Knoll parallel eingespielt und gesungen, umschlungen von diversen Blechblas- und Tasteninstrumenten. Oder von sorgfältig editierten Interviews mit elf gleich wichtigen Protagonisten unterlegt – klug von Josefine Rose Habermehl geführt und collagiert. Echte Menschen wie Sparkassenrisikocontroler, politische Bildnerin, Pfarrer, Häckse, Polizist, Ex-Regierungspräsidentin – und als Stargast Gemeinwohl-Guru Christian Felber. Sie beantworten ihre Sicht auf gemeinnützige Räuberei – ganz im Sinne von Robin Hood und seinen Gefährten – und teilen ihre Vorstellung von Armut, Bedürftigkeit, Reichtum, Einsamkeit, Zusammenhalt und Gerechtigkeit sowie ihre persönliche Art von Widerstand mit.

 

Faszinierende Bildsprache

Deren Sichten spiegeln den Zeitgeist ganz virulent, zum Ereignis wird es durch die rhythmischen Interventionen und vor allem die Bildsprache: der Wald als grüne Oase, bewohnt von vier skurrilen Gestalten: Josephine Raschke als weitsichtiges Auge geht sogar in den grünen, glitschigen Tunnel, Figurenspielerin Nadia Ihjeij tanzt mit fünf Anonymusmasken plus Gesicht, Pia Alena Wagner geistert als schwarz-verschleierte Fee und Omar Guadarrama, als Mindmaster ganz in Pink und mit einem sensationellen Fünfgesichterkopf (inklusive dem eigenen Gesicht) ausgestattet, darf den waghalsigen Kletterpart übernehmen. Das alles rein pantomimisch, in Zeitlupe, aber immer in elfenhafter Eleganz. Die faszinierende Filmarbeit von Young-Soo Chang hebt den spannenden Rahmen in eine melancholische Aura – ein Genuss, den man so noch nicht erlebt hat.

So schufen die Progranauten einen rundum bemerkenswerten Abend der Arbeit, der trotz aller Komplexität und Finessen ohne jegliche technische Schwächen (was sehr selten ist) in einem lockeren Chat endete. Der Eindruck deckt sich mit den ersten 50 Kommentaren der Fangemeinde auf der Netzpräsenz. Wer es nicht glauben will: Das Werk und der hier geschilderte Eindruck können auf der Website der Performancetruppe nachempfunden werden – am besten einsam und in Ruhe.

 

Premiere: 1. Mai 2021

Künstlerische Leitung: Josefine Rose Habermehl und Ulrike Weidlich

Performance: Omar Guadarrama, Nadia Ihjeij, Josephine Raschke, Pia Alena Wagner

Musik: Sebastian Appelhoff und Torsten Knoll

Ausstattung: Kathlina Anna Reinhardt

Produktionsdramaturgie: Helene Ewert

Kamera und Schnitt: Young-Soo Chang

Lichtdesign und technische Umsetzung: Moritz Bütow

Produktionsassistenz: Lisa Diehl

Grafik: Johanna Unterberg/Smile Agentur

Presse- und Öffentlichkeitsarbeit: Kristina Wydra

Fotos: Sarah Rauch

 

Das Projekt wird gefördert vom Fonds Darstellende Künste aus den Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien und dem Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW

4 Kommentare
peter waschinsky
06.10.2021

Progranauten: "OO-DE-LALLY"

Ohhh, ich faß es nicht: Nicht nur ein Kommentar, nein gleich eine Diskussion im Fidena-Portal.
Sonst immer nur "0 Kommentare". Schade, daß die Stinkbombe wie die Entgegnung anonym geschmissen wurde, wie im Internet üblich. Ja, da ist man dann ganz mutig!
Vielleicht denkt Fidena mal nach, ob es evtl. ein wenig dazu ermuntert, zumindest indirekt?
Waschzettelultra
20.05.2021

RE: kritik an der kritik

@ anonymusmaske: Was für ein vor Arroganz triefender Bullshit. Kritiken sind - insbesondere in der gegenwärtigen Zeit - der Hauptgrund dafür, dass Theater überhaupt noch wahrgenommen wird. Festivals, Premieren etc. finden statt und keinen interessiert es, keiner bekommt es mit, bis auf ein paar dutzend Zuschauer*innen (wenn überhaupt), die sich das Ganze live angesehen haben - sei es online oder, in nicht-Corona-Zeiten, im Theater. Wer das nicht wahrhaben will, macht sich was vor.

Die Lösung ist sicher kein Verschanzen in der immer kleiner werdenden, eigenen Bubble, die meint, von jeglichem Aussenblick unabhängig zu sein. Sonst kann mensch die nächste grandiose, postdramatische Performance direkt allein vor dem heimischen Spiegel aufführen und sich dabei geil finden.
FIDENA-Das Portal
10.05.2021

Antwort auf Kommentar vom 06.05.2021

Verehrte*r Nutzer*in,

Theaterkritik ist für unser Portal und die darin vertretenen Künstler*innen von zentraler Bedeutung: Sie hilft dabei, Arbeiten und künstlerische Entwicklungen in den verschiedenen Regionen unseres Landes sichtbar zu machen, sie einzuordnen oder eine Interpretation anzubieten. Für die besprochenen Künstler*innen kann sie nützliche Impulse in Bezug auf die eigene ästhetische Praxis beinhalten, als unterstützendes Material bei Bewerbungen für Gastspiele und bei der Beantragung von Fördermitteln dienlich sein. Sie kann das Interesse eines potenziellen Publikums wecken und zum Vergleich mit der eigenen Rezeptionserfahrung einladen. Vor allem in der gegenwärtigen Zeit, in der Theater- und Kulturveranstaltungen unter veränderten Bedingungen stattfinden müssen, ist es wichtig, dass neue Produktionen in Form von Rezensionen dokumentiert werden. Ihren Waschzettel-Vergleich teilen wir nicht und wir möchten darauf hinweisen, dass die Kritiken auf unserem Portal sowohl von Männern als auch von Frauen unterschiedlichen Alters geschrieben werden.

Christofer Schmidt für das dfp
anonymusmaske
06.05.2021

kritik an der kritik

es stimmt mich irgendwie traurig, zu sehen, dass das einzige, was gegenwärtig von theater noch übrig geblieben ist, die theaterkritik ist. (alte weiße männer schreiben polemisch über darstellende kunst, die sie sich an ihrem wohlverdienten samstag zu gemüte geführt haben und begreifen sich als bindeglied zwischen künstler*innen und publikum.)

wo die theaterkritik à la nachtkritik-geblubber doch das kratzige waschzettelchen ist, was man eigentlich bei jedem mal tragen schon rausgeschnitten haben wollte, es aber immer wieder doch nicht macht, sei es aus vergesslichkeit oder aus leidensfähigkeit.

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