Die aktuelle Kritik

Das Weite Theater Berlin: "Intercity"

Von Martin Linzer

Das Weite Theater rettet ein fast vergessenes Stück von Oliver Bukowski.

 

Foto: Theater

 

Der Intercity hält nun in Lichtenberg

Der Hardcore-Autor aus der Lausitz hat Anfang der 90er in mehreren Stücken, heiter bis tödlich, die Misere des von blühenden Unsinn versprechenden Landschaftsgärtnern überrollten Landstrichs beschrieben. Ich erinnere mich etwa an einen langen Abend in den Freien Kammerspielen Magdeburg (auch „abgewickelt“), wo 1994 Bukowski gleich im Dreierpack gezeigt wurde. Nach insgesamt gelungenen Inszenierungen von „Halbwertzeit der Kanarienvögel“ und dem Renner „Londn – L.Ä. – Lübbenau“ wurde „Intercity“ knirschend gegen die Wand gefahren. Ich habe damals dem Team um Klaus Noack die Schuld an dem Desaster gegeben, was wohl ein Irrtum war..

Das Stück, in dem ein Stellwerker von Frau und Tochter vergiftet wird, um vom polnischen Schwiegersohn als dessen Nachfolger den ohne Halt durchs Dorf rasenden Intercity quasi als Menetekel entgleisen zu lassen, ist schlichtweg unspielbar. Es sei denn, man ersetzt die Menschendarsteller durch Puppen, dann können die Figuren noch so schräg, kann die Handlung noch so krass sein, Puppen können bekanntlich alles spielen.

Das Berliner Weite Theater und Jörg Lehmann als Regisseur spielen „Intercity - Ein Abend völliger Entgleisung“ nach Bukowski, das heißt, sie haben sich einige Freiheiten herausgenommen, ohne sich dabei zu übernehmen. Sie transportieren die Geschichte aus dem verrödelten Lakow mit seinen entfremdeten Randexistenzen ins Jahr 2011 und lassen – im Wortsinn – die Puppen tanzen (es sind schön schräge Handpuppen von Ausstatter Atif Hussein, dessen Video-Projektionen zugleich „hintergründig“ an das wahre Leben erinnern). Das macht auch, wir begreifen heute noch besser den durchs Dorf rasenden Intercity als Metapher für den am Dorf vorbeigehenden Aufschwung, und unsere Sinne werden geschärft für die rechten, fremdenfeindlichen Untertöne der tumben Dörfler als Reflex fehlgeleiteter Energien. Dazu genügt es, die konventionellen Mittel des traditionellen Handpuppenspiels zu bemühen, sie aber auch auszureizen. Die schon an sich haarsträubende Geschichte vom eher zufälligen Doppel-Mord und der Katastrophe einer am Ende nicht stattfindenden Katastrophe (den Stellwerker hat inzwischen ein „Chip“ ersetzt, was der Pole mit seinem Leben bezahlt) braucht keine haarsträubenden Mittel, im Gegenteil, lautet doch die Moral vom Jantzen: Hauptsache, dass wir gesund sind!

Im übrigen fehlt mir die Erfahrung, wirklich kompetent zu beurteilen, wie professionell die vier Puppenspieler – Christine Müller, Irene Winter, Torsten Gesser, Martin Karl – ihre Arbeit verrichten, aber die nicht nur räumliche Nähe des Weiten Theaters zur Abteilung Puppenspielkunst der Ernst-Busch-Hochschule scheint mir für entsprechende Qualität zu bürgen. Der Beifall nach fast eineinhalbstündiger Fahrtzeit ohne Zwischenhalt war jedenfalls herzlich. Rettung geglückt!



Intercity - Ein Abend völliger Entgleisung
Das Weite Theater für Puppen und Menschen, Berlin
Regie: Jörg Lehmann
Spiel: Christine Müller, Irene Winter, Torsten Gesser und Martin Karl
Puppen & Bühne: Atif Hussein

Portal-Seite Das Weite Theater

Homepage Das Weite Theater

 

In Zusammenarbeit mit double - Magazin für Figuren-, Puppen- und Objekttheater

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