Lindenfels Westflügel: „Vanavanemad – Unterwegs zu den Altältern“
Estnische Revue
Estland, diese kleine flache Land östlich der Ostsee, ist ein fernes Land, weiter weg als die rund 1200 Kilometer Luftlinie vom Lindenfels Westflügel in Leipzig. Die Reise der Estinnen Kadri Kalda und Merike Paberits war bedeutend länger, führte sie doch in die tief in die Geschichte ihrer Vorfahren oder zu den „Altältern“, wie sie es nennen. Am Anfang steht die Frage, was es zu einem perfekten Leben braucht, und diese Frage wird im Stück wiederholt, bis sie ins Leere zu laufen droht. Viel offensichtlicher ist aber die andere Frage nach der Identität und danach, wie dick gepackt der das Ich stiftende Rucksack sein muss, den man mit sich herumträgt.
Der Rucksack ist in „Vanavanemad“ ein großer Koffer, der sich entsprechend nur umständlich transportieren lässt. Der Transport ist allerdings notwendig, denn immerhin handelt es sich um einen Walk-Act durch den Lindenfels Westflügel. Dafür muss man auch ein bisschen in Bewegung sein, also werden Koffer und Publikum zunächst vom Vorraum in die Bar beordert. Das dortige Auspacken von Kitteln, Kopftüchern oder Hölzern umrahmt Gesang und untermalt das erheiternden Spiel mit deutschen Lehnwörtern im Estnischen – immerhin gab es Jahrhunderte lang Kontakte zwischen beiden Sprachen.
Soweit zurück geht es zunächst noch nicht. Erstmal wird die Szenerie auf den Treppenabsatz und in die Zeit der Singenden Revolution verlegt, die 1988 mit der Loslösung von der Sowjetunion begann. Das gemeinsame Singen spielt immer noch eine große Rolle: Auf die Wand wird eine Aufnahme von 2014 projiziert, bei der die Massen die „Morgenröte“ von Tõnis Mägi mitschmettern, die zum Repertoire der Revolution gehörte. Einige der Zuschauer ertappen sich beim Mitschunkeln.
Und dann ist tatsächlich Bewegung angesagt: Als Menschenkette tanzt das Publikum zu den Klängen des Torupill, der estnischen Sackpfeife, in den Saal und nimmt Platz. Damit ist der Walk-Act jedenfalls für das Publikum vorbei, beginnt eine Vorstellung mit Bühne und Sitzreihen, während Kalda und Paberits durchaus noch von der Möglichkeit Gebrauch machen, den Saal zu verlassen und klanglich oder per rotem Wollfaden Verbindung von verschiedenen Räumen aus aufzunehmen.
Fotos von Angehörigen führen in die Sowjetzeit, Geschichten werden erzählt. Immer wieder ist von der Großmutter die Rede, auf die Lieder gesungen werden. Eine Fußbank wird zum Zugwaggon, der Eingekochtes und die Großmutter nach Sibirien fährt. Eine Schaukel baumelt von der Decke, die sich dann als Altflöte herausstellt und später doch als Schaukel gebraucht wird. Ein auf dem Boden ausgebreitetes Tuch verheißt wohnliches Idyll. Inzwischen steht der Zeitstrahl im Jahr 1918, als Estland zum ersten Mal unabhängig war. Von da aus geht es großen Schritten bis zur ersten Besiedlung zurück.
Dieser Teil der Aufführung ist nicht nur deshalb statischer, weil das Publikum sitzt und zuschaut. Er gerät bisweilen auch etwas steif, weil zwischen all den Geschichten und all der Musik ein Ticken zu viel Schweigen herrscht, eine Millisekunde zu lange gewartet wird, bis der nächste Faden aufgenommen wird.
Freilich gibt es einige gute Einfälle, etwa wenn die Zeit zwischen dem 13. und dem 18. Jahrhundert, als Estland zwischen verschiedenen Herrschern immer wieder neu aufgeteilt wurde, mit einem Kuchen symbolisiert wird, der sich schließlich nur noch zermatschen lässt. Oder wenn der Koffer zur Kate wird, in der eine Großfamilie mitsamt ihres Viehs Platz finden muss. Somit ist dieser von viel Musik und vielen Melodien unterlegte Ausflug nach Estland durchaus bunt, wild und unterhaltsam geraten, enthält aber leider auch zähe Momente.
Premiere 19.11.2015
Lindenfels Westflügel Leipzig
Eine Produktion des Lindenfels Westflügel
Text und Regie: Christiane Zanger
Spiel, Musik und Text: Kadri Kalda und Merike Paberits
Foto: Marija Liisa Plats