HELIOS: „Wer den Wind erweckt hat“
Wie sieht der Wind aus, wenn er schläft? Wie, wenn er im Felsenschatten liegt, ohne sich zu rühren? Wie klingt er dann? Subtil schwingen diese Fragen mit, wenn die Spinne den Gesuchten auf einer Felseninsel findet. Doch es ist selbstverständlich, dass sie ihn erkennt – sie, die als Vertreterin der Fauna seine Abwesenheit doch so sehr spürt. „Überall herrschte eine so große Stille, dass die Tiere durch ihre eigenen Schritte erschreckt wurden“. Umso größer ist die Erleichterung – ja, die Euphorie, als mit dem von den Rufen der Spinne erweckten Wind ein Konzert aus Rhythmus aufzieht, ein Klopfen, Trommeln, Klappern aus Drums (Dominik Hahn), Keyboard und den Stab-Ästen des Bühnenbildes. Es ist ein Rhythmus, der unter die Kleider fährt, der den Körper kitzelt wie der Wind beim Rennen durch den Wald, in dem die Tiere die Rückkehr ihres windigen Freundes feiern.
Welche Rolle spielt es da, wer den Wind rief und in den Wald zurückholte? Die Fliege will es gewesen sein und warum nicht ihr glauben? Sie war zuerst da, hat als Erste ihre Ansprüche verlauten, hat sich nahrhafte Belohnung versprechen lassen. Warum all das noch umwerfen, als die Spinne daherkommt und als Zweite behauptet, den Wind zurückgeholt zu haben? In sichtlicher Bewegung der langen Fingerbeine – die durch Bahar Safadis virtuoses Spiel und die gliedrige Struktur der Spinnenpuppe im gemeinen Phobiker leichten Ekel weckt – vermeldet sie ihr Recht als Heldin. Auf dem Kopf der Sängerin Maika Küster kriechend, ihre Stirn mit den langen Spinnenbeinen sanft streichelnd bespielt sie den atmosphärisch-psychedelischen Gesang, dessen Ende fast schon schmerzt.
Und dann geht sie zum Angriff über – zum passiv-aggressiven Beutefang der Spinnen. Zwischen den grünen Ast-Stäben auf der Bühne webt sie ihre Netze, um Rache zu üben an den Fliegen, deren Vertreterin sie so hinterhältig verriet. Auf diese Weise wird die Spinne bei der schlichten Nahrungsaufnahme so personifiziert, dass der letzte Satz zu einer Art interpretierendem Fazit gerät: „Von diesem Tag an webte die Spinne stabile Netze, um darin Fliegen zu fangen und genüsslich zu verspeisen.“
Wunderbar daher, dass dieser Zusammenhang sich vermutlich nur im erwachsenen Gehirn entspinnt, denn Ekel ist anerzogen. So profitiert das Stück von der Offenheit des kindlichen Zuschauers, der das Bühnengeschehen als das sehen kann, was es ist: Eine Spinne, die sich nahezu naturgetreu bewegt, und eine Fliege, deren Fingerbeine sich an Michael Lurses Hand glaubhaft im Spinnennetz verkleben.
Doch Spinne und Fliege sind nicht die einzigen Figuren, die Lisa Schnee dem jeweiligen tierischen Wesen entsprechend und gleichzeitig hoch kreativ entwickelt und gebaut hat. So scheinen ein Schmetterling und ein Regenschirm nicht wirklich zusammenzupassen. Und doch wirkt es ganz natürlich, das wechselndes Öffnen und Schließen eines schmetterlingsförmigen Regenschirms ein Flügelschlagen ist. Auch als Federkleid eines großen Vogels überzeugt der Regenschirm. Da werden die schwer verständlichen Quäkstimmen von Ratte und Schlange doch verzeihlich.
Vor allem, als die Bewegung des Tierkollektivs ein eigenes Klarinettenthema erhält, das sowohl als Strukturelement als auch als atmosphärische Untermalung fungiert. Nachdem der Wind verschwunden ist, rufen die Tiere zur Tierkonferenz. Die Klarinette, gespielt von Maryanne Piper, wirkt dabei wie ein Sog, eine immerwährende Wiederholung, die tranceartig zu sich ruft. Und so müssen sich die Tiere förmlich versammeln, um darüber zu beratschlagen, wie sie den Wind zurückholen können. Und hier werden auch die Musiker zu Puppenspielern – indem sie schlicht den Blick senken. Denn Grashüpfer und Löwe sind Gesichter auf den Kopfbedeckungen der Musiker, ein humoristischer Effekt, der in seiner einfachen Darstellungsweise eindeutig ist.
Solange die Unterredung währt, schweigt die Klarinette. Doch als die Tiere sich zu ihrer großen Suche nach dem Wind aufmachen, setzt sie wieder ein: mit demselben eindringlichen Thema, in einer orientalischen Tonlage, die dem Moment eine außergewöhnliche Schönheit verleiht.
Das Kultursekretariat NRW Gütersloh hat diese Produktion beauftragt mit dem Ziel, einen Beitrag zum „zeitgenössischen Musiktheater für Kinder“ zu leisten. Wer den Wind erweckt hat erfüllt diesen Anspruch und geht darüber hinaus. Denn in seiner Anlehnung an eine lettische Mythe ist das Stück sowohl traditionell als auch zeitgenössisch. Ja, es ist Musiktheater, aber es ist auch Schauspiel, Installation und – vor allem – Puppenspiel. Und auch den Anspruch an ein Kindertheater kann dieses Stück wohl erfüllen. Doch die meisten Regungen waren während der Vorstellung aus dem erwachsenen Publikum zu vernehmen. Barbara Kölling hat mit dieser Inszenierung ein breitentaugliches Stück geschaffen – ohne dabei den gebotenen künstlerischen Anspruch in irgendeiner Weise zu vernachlässigen.
Foto: A.-S. Zimniak
Hamm und Hagen
Sie haben absolut Recht. Vielen Dank für den Hinweis, es ist inzwischen verbessert.
HELIOS: „Wer den Wind erweckt hat“
Wie so Hagen? Die Premiere war doch in Hamm!