Die aktuelle Kritik

Tatjana Reeh, Theater Textura Esther Nicklas, PRAGMATA: "Parcours: Hinterland / Martha Morpheus / Gute Nacht"

Von Katja Kollmann

Die Berliner Schaubude feiert ihre Wiedereröffnung mit einem Parcours durchs Haus. Plätzchenspuren führen in den Keller. In einer Garage drehen sich Plattenspieler mit Wachsfiguren. Und auf der großen Bühne führt eine Schlaftablette einen Tanz zu Mozarts Requiem auf. Die Berliner Künstler*innen Tatjana Reeh, Esther Nicklas und PRAGMATA verschieben gewohnte Wahrnehmungsraster.

„Immer den Plätzchenspuren nach“, höre ich noch. Dann fällt die Kellertür zu. Geheimnisvoll wirken so die Plätzchenbrösel auf den Treppenstufen und führen da hin, wo Licht ist. Christbäume mit Lichterketten spiegeln sich in einer weiß gefliesten Wand, subtil konterkariert von einem rostigen Hahn und einem Loch im Putz, aus dem ein altes Rohr ragt. Plötzlich mutieren die Fliesen zur Leinwand. Dort sitzt in einem klaustrophobisch anmutenden Raum ohne Fenster, dafür aber mit Wänden aus Eiswaffelmaterial, eine Knetmännchenfigur und sieht fern. Was dann filmisch passiert, ist der sich ins Totale steigernde Kontrollverlust zweier Figuren über ihre Umgebung.

Die Berliner Künstlerin Tatjana Reeh stellt das mit Knetmasse dar: So flutet Eis lavaartig den Raum, die Figuren sind buchstäblich im freien Fall, purzeln ohne Halt – wie Alice im Wunderland - nach unten und landen neben einem sprechenden Baum, der wenig später mit der U-Bahn wegfährt. „Hinterland“ hat noch viele solcher Episoden. Am Ende des Kurzfilms verlässt die Kamera den Mikrokosmos und scheint in den Kosmos zu rasen. Irgendwann während dieser guten Viertelstunde habe ich den Eindruck, als ob mein Körper den Boden unter den Füßen verlieren könnte, so als hätte die Schwerkraft aufgehört zu existieren. Mit einer gewissen Wahrnehmungsverschiebung verlasse ich also den Keller und mache mich auf den Weg zur zweiten Station des Parcours, mit dem die Berliner Schaubude ihre Wiedereröffnung feiert.

Esther Nicklas hat in einer Garage auf dem Hof drei Plattenspieler aufgebaut. Auf diesen kreisen Figuren aus Wachs. Es scheint, als hätte die Berliner Künstlerin die handgroßen Figuren auf ihre Schattenwirkung hin modelliert. Wächserne abstehende Haare werden in der Schattendrehung zu grazilen Armen und ein abstehender Wachsbatzen wird zu einem anmutig schwingenden Rock. Unterlegt wird das Schattentheater mit dem Kurzhörspiel „Martha Morpheus“. Fräulein Nadel animiert als personifizierte Plattenspielernadel die Putzfrau Martha Morpheus, eine Schallplatte von Claude Debussy aufzulegen und so ihrem Alltag zu entfliehen. Was folgt, ist eine Liebeserklärung an Debussy und an die Kraft der Musik generell, das Verhältnis von Zeit und Raum zu verändern. Nach einem letzten Kichern von Fräulein Nadel wird es still in der Garage. Die tanzenden Schatten aber, Inbegriff der flüchtigen Schönheit, erneuern sich im immer gleichen Rhythmus.

Martha Morpheus: Foto von Uwe Walter

Aus dem Reich der Schatten führt der Weg direkt auf die Bühne zur dritten und letzten Etappe des Parcours. Da steht ein kleines Häuschen (ohne Fenster, wie im Animationsfilm im Keller!). Da soll ich rein. Okay. Anweisung aus dem Kopfhörer: Aufs Bett legen. Okay. Da liege ich, werde ein bisschen zugetextet mit Assoziationen zur Schlaflosigkeit. Nicht so spannend. Einem geschlossenen Raum ausgeliefert sein, der akustisch und haptisch ein Eigenleben führt, das ich nicht kenne: sehr spannend. Die stärkste atmosphärische Dichte hat PRAGMATAs „Gute Nacht“ als eine Schlaftablette tanzt  – mitten durch alle anderen Tabletten der vollgestopften Nachttischschublade hindurch – von Mozarts Requiem begleitet. Die Stunde Ein-Mensch-Parcours ist wie im Flug vergangen. Wahrnehmungskoordinaten haben sich verschoben. Und vor meinem inneren Auge tanzen die Schatten.

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Hinterland  

Tatjana Reeh, Berlin

Puppen-Animationsfilm • mit wenig Sprache   

Regie, Spiel: Tatjana Reeh 

Musik: Johann Sebastian Bach, Orli Baruch, Carola Bauckholt, Florence Foster Jenkins und Tabea Blumenschein/Frieder Butzmann/Gudrun Gut/Bettina Köster

Fotos: Tatjana Reeh

Unterstützt von UdK Berlin

 

Martha Morpheus  

Theater Textura Esther Nicklas, Berlin

Hörspiel-Installation • in Deutsch

Installation: Esther Nicklas

Stimmen: Esther Nicklas, Michael Schwager

Hörspiel-Regie: Oliver Wenzlaff

Dramaturgie: Julia Powalla

Ton, Technik: Tom Bopp, Christian Ulrich

Musik: Claude Debussy

Fotos: Uwe Walter

 

Gute Nacht – eine Hörspielinstallation zum Nicht-Einschlafen

Pragmata, Berlin  

Automatische Objekttheater-Performance • in Deutsch oder Englisch

Konzept, Entwicklung: PRAGMATA (Alpha Kartsaki, Sebastian Schlemminger)

Stimmen: Manuela Neudegger, Norman Grotegut 

Moving Image: Theofilos Ieropoulos

Dramaturgische Beratung: Franziska Burnay Pereira

Outside Eye: Verena Lobert

Sound: PRAGMATA, Raumbau, Dan Liebenthal 

Fotos: PRAGMATA

Übersetzung: Charlie Zaharoff

Dokumentation: Richard Rocholl

Produktionsleitung: Zwei Eulen

Koproduktion mit Schaubude Berlin, T-Werk Potsdam

Gefördert von Senatsverwaltung für Kultur und Europa des Landes Berlin, Fonds Darstellende Künste aus Mitteln der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien

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