Die aktuelle Kritik

HMDK Stuttgart: "EGALE LAGƎ"

Von Brigitte Jähnigen

Studierende des Studiengangs Figurentheater der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Stuttgart präsentieren theatralische Versuchsanordnungen, inspiriert von der „Wissenschaft der imaginären Lösungen“, der Pataphysik.

Die Uraufführung im Stuttgarter Wilhelma Theater zeigt eine Welt, in der die Grenzen der Naturgesetze scheinbar aufgehoben sind: So präsentieren sich die Spieler*innen dank manipulierter Live-Videotechnik in Mehrfachpräsenz. Reale Körper liegen horizontal auf dem Boden, ihre Doppelgänger*innen kriechen zeitgleich auch ohne Adhäsionskraft senkrecht die Videowand hoch. Scheinbar leere Kugeln bergen Geheimnisse. Sprecher*innen zitieren dadaistische Texte. Soundcollagen geben musikalisch-rhythmische Impulse. Zur Pataphysik, begründet vom französischen Schriftsteller Alfred Jarry (1873-1907), gehört alles, was vorstellbar ist. Dem Publikum darf also empfohlen werden, sich dem szenisch aufgebauten, hoch ästhetisch inszenierten Theaterabend (Idee & Regie Katharina Wibmer) offenen Geistes hinzugeben und zu staunen.

Zu Lebzeiten war Alfred Jarry, aus bestem bretonischem Hause stammend, ein Außenseiter. Sein groteskes Drama „König Ubu“ provozierte einen handfesten Skandal in der französischen Theatergeschichte. Inzwischen zählt das Werk zu einem häufig gespielten Bühnenstoff, vor allem im Figurentheater. Weniger bekannt, aber von ihren Anhänger*innen als „logische Erweiterung von Wissenschaft und Philosophie“ vorgetragen, ist die Pataphysik. 1948 gründete Jarry mit Mitstreiter*innen in Paris das „Collège de Pataphysik“. Später traten auch renommierte Zeitgeister wie Marcel Duchamp (1887-1968), Eugène Ionesco (1909-1994) und Umberto Ecco (1932-2016) der Vereinigung bei. Sie alle einte der Gedanke, dass es ohne Pataphysik keine Neugierde, keine Illusionen, keine Erfindungen gäbe.

Foto (c) Christoph Kalscheuer "EGALE LAGƎ", Wilhelma Theater

In „Egale LagE“ wird das Publikum vom Spieler*innen-Pentagon in imaginäre Welten entführt. Inspiriert (und genervt) vom inflationären Expert*innentum der vergangenen Jahre werden die Studierenden selbst zu Expert*innen. Die Zuschauer*innen amüsieren sich über die absurde Titelvergabe: Emil Fischer wird zum Lehrbeauftragten für Bodenvermeidung, Eva Maria Hasler zum Master of Arts Beautologie, Seul Subi Lee ist eine Entwicklerin für Keimspannungsmethode, Jo Posenenske fungiert als Professor für Konstanz-Management, Nóra Vermes als Erfinderin der Taschenmelancholie.

Die Bühne ist mit mobilen Stellwänden samt angebauten Treppenstufen möbliert. Auf einem hängenden, beleuchteten Dreieck präsentieren die Studierenden den Titel der Inszenierung. In blaue Kittel gewandt, identifizieren sie sich als Gruppe, durch muttersprachlich vorgetragene Texte in deutscher, englischer, ungarischer und koreanischer Sprache als global arbeitendes Kollektiv. Kaum sind die Kittel mit betont exzentrischen Bewegungsabläufen abgelegt und orangefarbene Helme aufgesetzt, tritt das Individuum samt seinen Eigenheiten ins Rampenlicht: Kokette Mimik, eitles Zurückstreifen des Haupthaares. Immer wieder werden die Spieler*nnen auch zu Claqueur*innen ihres Tuns.

Foto (c) Christoph Kalscheuer "EGALE LAGƎ", Wilhelma Theater

Geometrische Körper wie Kugel, Würfel oder Zylinder werden zu Spielpartner*innen; durch zwei manipulierte Livekameras und den Einsatz von Techniken wie Chroma Keying (visueller Effekt zum Freistellen von Bildmaterial) werden die Spieler*innen zu puppenhaften Probant*innen. Jenseits der Schwerkraft kriechen die gedoppelten Versionen ihres Selbst wie Fliegen mit Ächzen und Stöhnen senkrecht die Videowand hinauf, während die realen Körper sich waagerecht auf dem Boden bewegen. Eine anfangs als Verhüllungstuch benutzte Textilie führt ein Eigenleben. Sie schwebt durch den Bühnenraum und über die Videowand. Texte, vom Dadaismus beeinflusst, zeigen Doppelsinn, wenn es heißt: „Jetzt ist. Nicht jetzt. Jetzt noch nicht“. Wörter und Begriffe werden sprachlich durcheinander gewürfelt und mit anderem Sinn neu gefügt: „Sofern. So fern“ und „Ebenso. So eben“. Kindliche Spielmuster sind erkennbar und machen Spaß – Lernen durch Versuch.

Immer wieder fühlt man sich ins Varieté versetzt, die Ereignisse wirken magisch: Eine in die Luft geworfene Orange kehrt wie ein Boomerang in die Wurfhand zurück, Stellwände rücken zusammen und eine Choreografie aus Beinen und Füßen wird sichtbar, in der die Köpfe aber unsichtbar bleiben. Ohne Alvaro Garcia als künstlerisch und technisch perfektem Videotechniker wäre das Publikum um viele Illusionen ärmer. Entzaubernde Denkversuche sind unangebracht, denn die Inszenierung will zeigen: Realität als Illusion und Illusion als Realität. Alfred Jarrys Sehnsucht nach einem freieren Weltverständnis von Wissenschaft hat in Stuttgart Anhänger*innen gefunden. Das Premierenpublikum war begeistert.

Idee und Regie: Katharina Wibmer
Videotechnik: Alvaro Garcia
Regie Assistenz: Lukas Schneider
Bühne Kostüme: Kersten Paulsen
Bühnentechnik: Team Wilhelma Theater
Figurenspieler*innen: Emil Fischer, Eva Hasler, Seul Subi Lee, Jo Posenenske, Nóra Vermes

Fotos: Christoph Kalscheuer "EGALE LAGƎ", Wilhelma Theater

Hier geht's zum Trailer

Premiere am Freitag, den 24. März 2023 um 20.00 Uhr im Wilhelma Theater
Weitere Vorstellungen am 25., 26., 30., 31. März
und zum letzten Mal am 1. April 2023 jeweils um 20.00 Uhr

 

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