Die aktuelle Kritik

Landesbühnen Sachsen: "Rauschen" & Sächsisches Puppentheatertreffen

von Andreas Herrmann

In Radebeul stellt sich die deutsch-polnische Kooperation „Rauschen“ als Höhepunkt des neunten sächsischen Puppentheatertreffens die Frage, wie frei die Gedanken ohne Umgebungsgeräusche sein können. Fast ohne Worte, dafür in herrlicher Symbiose von Animation, Klang, Traumsphären und Puppenspiel.

Eine packende Schulstunde lang ganzheitliches Theater: Der Protagonist der Geschichte ist ein Junge, der sich vermutlich in einem Alter zwischen der Altersempfehlung des Stücks (ab 12) und Jugendweihe (bis 15) befindet. Sein Alltag überfordert ihn: aufstehen, von den Eltern abgefrühstückt werden und dann los zur Schule. Im wilden Großstadttrubel steht er außerdem vor der schwierigen Entscheidung zwischen drei Mädchen. All dies ist dem Klapphandybesitzer jedoch zu viel – er kriecht in Kafkas Bau und verwettet für seelische Ruhe sein Ohrenpaar, welches fortan (vielleicht als Überwachungsmetapher) durch den Raum schwebt …

Landesbühnen Sachsen „Rauschen“ (c) Carsten Beier

Das alles passiert im Dunkeln mit vier großen und vier kleinen Puppen – darunter das Schulhaus als singende, klingende Institution („Die Gedanken sind frei“) und ein kleiner Avatar des Helden als Alter Ego, der die lustig tanzende wie händisch übergriffige Schule gierig einsaugt. Umgarnt wird das Geschehen, welches mit grandiosen Projektionen auf drei Quadern und fünf Gaze-Tafeln und mit einem durchgängigen Klangteppich arbeitet, von allen Sinnen. Es beeindruckt als Gesamtkunstwerk trotz der Kürze vor allem wegen des fulminanten Zusammenspiels der verwendeten Mittel.

„Rauschen“ basiert auf einer Radebeuler Idee aus der vorherigen Spielzeit, wo Theaterpädagogin Franziska Till die Nachwehen der Corona-Zeit entgegenschlugen – und vor allem die Vereinsamung der Älteren, die im normalen Leben nicht im Netz verschwinden können (oder wollen), und deren Enkel*innen das bitter aufstieß. Die verschiedenen Welten – analog und digital – gerieten in den Fokus – und die markante Ohrenmetapher (als Rausch-Ausschluss) ward geboren. Eigentlich ein totaler (wie gelungener) Gegensatz zu den markanten Riesenkopfhörer-Aussteiger*innen allerorten, die (vermutlich) ihr eigenes Rauschprogramm pflegen – oder nur ihre Ruhe haben wollen und dies markant zeigen.

Damit ging es gen Breslau, wo die beiden Kunstakademien (und mehrere bekannte Bühnen) einen Hort für Theaterkreation bieten, aus dem einst auch Konrad Bruno hervorgegangen ist, mit dessen Hilfe  die Regisseurin Agata Kucińska, Aleksandra Stawik für Puppen und Ausstattung, Ignacy Wojciechowski für die durchgängigen Klangsphären und die beiden Studenten vom jungen „Cloud Theater“ für die markant animierten  Filmsequenzen gewonnen werden konnten. Am berühmten Wrocławski Teatr Lalek wurde Wojciech Stachura gefunden, der nun in körperlicher Dynamik den stummen, aber sensiblen Haupthelden spielt:  ein bleicher Vorstadtjüngling, der in seiner eigenen Welt schwebt, für den Schule eine Qual ist und der drei herrlich verschiedene Verehrerinnen abwimmelt.

Landesbühnen Sachsen „Rauschen“ (c) Carsten Beier

Das ganze Geschehen wäre in seiner punktgenauen Komplexität undenkbar ohne Tontechniker Mike König an den Reglern, der die 150 Bausteine steuert, während das Publikum annimmt, das alles geschähe im Fluss und die Performance richte sich nach Video und Ton. Große Begeisterung, auch bei den Gymnasialklassen. Statt eines Nachgespräches gab es allerdings – nur für die sich Treffenden – einen Bastel- und Sitzkreis der so genannten „Geheimen Dramaturgischen Gesellschaft“.

Eingebettet war die Vorstellung in das neunte sächsische Puppentheatertreffen, zu der sich die sechs kommunal finanzierten Puppentheaterensembles des Freistaates Anfang Mai trafen, welches alle zwei Jahre die einzigartige Dichte der sächsischen Theaterpuppenwelt versammelt und auch 2021 stattfand – allerdings nur digital. Nicht nur die beiden eigenständigen Kinder- und Jugendtheater mit dem Vornamen Jung in Dresden und Leipzig, sondern auch das Chemnitzer Schauspiel, die Stadt Zwickau und das Deutsch-Sorbische Volkstheater Bautzen leisten sich ein explizites Ensemble dafür.

Vor acht Jahren startete auch Radebeul mit einer Ein-Mann-Sparte, die allerdings bis 2020 stetem Wechsel unterlag, aber nun durch Franziska und Konrad Bruno Till verdoppelte Belebung erfährt. Beide lernten sich in Zwickau kennen, wohin es ihn als Puppenspieler und sie als Theaterpädagogin verschlug. Immerhin 13 Produktionen stehen just im Repertoire, wobei die Sparte zum “Jungen Studio” dazugehört.

Nun waren die Radebeuler Landesbühnen unter organisatorischer Obhut von Franziska Till erstmalig Gastgeber wie Tagungsort, wobei sich einem zweitägigen Fachgesimpel ein dreitägiges Festival mit sieben Vorstellungen als eine Art Werkschau anschloss. Dabei kam es – da Storms “Schimmelreiter” aus Chemnitz nicht anreisen konnte – zu einer Dopplung im Programm: Das Theater Junge Generation, Gastgeber des Treffens von 2007 und 2015, startete (per Heimspiel auf der eigenen Bühne, genau sechs S-Bahnstationen elbaufwärts) mit „Was das Nashorn sah, als es auf die andere Seite des Zaunes schaute“ – eine andere Version dieses Trendstücks servierte das Chemnitzer Figurentheater zum Schluss. Dies war insofern schade, als dass der ambitionierte „Schimmelreiter“, der zum siebenpremierigen Eröffnungsreigen der Chemnitzer Interimsspielstätte für Schau- und Puppenspiel namens „Spinnbau“ (von denen gesundheitsbedingt dann nur fünf stattfanden) vor einem Jahr herauskam, in der Regie von Markus Joss eine Art Revival bedeutet hätte, denn dieser stand von 2005 bis 2008 der Dresdner Puppensparte am Theater Junge Generation, damals im legendären Dresdner Rundkino residierend, vor.

Das Puppentheater Zwickau spielte hingegen gleich drei Mal „Der Erlkönig“ – digital mit VR-Brille: kurz, aber sehr intensiv. Bautzen spendierte hingegen ein Puppenspiel-Quartett für die Premiere der Kalman-Operette „Zirkusprinzessin“, die am Wochenende zuvor Premiere feierte und als Kooperation im Oktober zum Rückspiel reist. Zum Schluss gab es noch einen externen Höhepunkt: Lalek mit „Kulka“ als Gastspiel am Sonnabend behufs der Familienbegeisterung. Das Fazit des Treffens von Franziska Till fällt so – nach vier Jahren ohne direktes Treffen der Akteure – überaus positiv aus, allerdings sei noch kein Gastgeber für das 10. Treffen anno 2025 auserwählt worden. Auch der Vorsitzende des Deutschen Bühnenvereins Sachsen, Bautzens Volkstheaterintendant Lutz Hillmann, überzeugte sich vor Ort von der Lebendigkeit der Sparte – und hatte sowohl seinen scheidenden als auch seinen neuen Spartenchef mit dabei: Denn Stephan Siegfried wechselt wieder (wie schon mal 2014 für vier Jahre) von Bautzen nach Koblenz, ab Herbst übernimmt mit Tim Heilmann als neuer Spartenleiter, der schon mal die Szene eruierte.

Das Radebeuler „Rauschen“ kann aufgrund der Kooperationskonstellation terminlich immer nur im Block gespielt werden, Till hofft aber, dass dabei noch ein bisschen an der Interaktion mit dem Publikum gearbeitet werden kann, also der performative Charakter noch ausgebaut werde. Die nächsten fünf Vorstellungen in Radebeul sind für Oktober en suite terminiert – der ganze Aufbau scheint durchaus gut gastspielfähig und sollte für Personen ab Zwölf überall funktionieren. Neben der Jugend dürften auch die Eltern und das Lehrpersonal von diesem Stück begeistert sein und die Handys eine Zeit lang ruhen lassen.

Rauschen

Eine Stückentwicklung von Agata Kucińska in Kooperation mit »Cloud Theater« und dem »Wrocławski Teatr Lalek«

Premiere: 24. März 2023

Landesbühnen Sachsen (Studiobühne) – empfohlen ab 12 Jahren

Aufführungsdauer: derzeit ca. 50 Minuten ohne Pause

Inszenierung: Agata Kucińska a. G.

Bühne und Kostüme: Aleksandra Stawik a. G.

Lichtdesign: Cloud Theater a. G.

Musik: Ignacy Wojciechowski a. G.

Dramaturgie: Franziska Till

Spiel:  Wojciech Stachura (a.G.) und Konrad Bruno Till

Ton & Steuerung: Mike König

Fotos: Carsten Beier

Nächste Vorstellungen: 14., 21. & 22. Oktober (je 18 Uhr Studiobühne Landesbühnen) sowie am 19. & 20. Oktober (je 19 Uhr) öffentlich in der Aula des Lößnitzgymnasiums Radebeul

 

https://www.landesbuehnen-sachsen.de/spielzeit/rauschen/

www.landesbuehnen-sachsen.de/puppentheatertreffen

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