Die aktuelle Kritik

Das Weite Theater Berlin: "Piraten, Piraten"

von Tom Mustroph

Kritik der Jubiläumsinszenierung und ein Blick auf die Theatersituation nach 25 Jahren.

 

Standfest auf hoher See

Weit über die Genregrenzen hinausgehend war bei der Gründung des Weiten Theaters Berlin vor 25 Jahren der Theaterbegriff angedacht. Einen weiten Weg hat die Truppe seitdem auch zurückgelegt - vom Sprung in die Selbständigkeit nach der Abwicklung des Puppentheaters Berlin kurz nach Mauerfall über den Jahre langen Ausflug an die Berliner Peripherie in der Trabantenstadt Hellersdorf bis hin zum Weg zurück an den Rand des S-Bahnrings in Berlin-Lichtenberg sowie zur künstlerischen Partnerschaft mit dem Theater des Lachens Frankfurt/Oder. Seit nunmehr 14 Jahren hat das Weite Theater seine Heimstatt im Haus der Abteilung Puppenspiel der Hochschule "Ernst Busch". Am 17. Juni 2017 wird dort das Vierteljahrhundert gefeiert. Berlins Kultursenator Klaus Lederer hat sich angekündigt - Zeichen für die in den letzten Jahren wieder gewachsene Wertschätzung des Puppen- und Objekttheaters seitens der hiesigen Kulturpolitik. Auftreten wird zum Fest auch Michael Hatzius mit der Echse - der heutige Puppenspielstar gehörte zu den Hellersdorfer Theaterkindern des Weiten Theaters.

Ein weiteres "Theaterkind" aus Hellersdorfer Zeiten ist mittlerweile als Regisseur und Vereinsvorstand fest in das Weite Theater integriert: Björn Langhans' jüngste Inszenierung "Piraten, Piraten" feierte am 14. Mai 2017 Premiere.

In der geht es zünftig zu Werke: Eine große Holzleiter, ein paar Planken und eine große Kiste braucht es nur, und fertig ist die Piratenwelt. Mit wenigen, aber virtuos eingesetzten Objekten und einer einzigen Puppe kreieren die Spieler Christine Müller und Martin Karl ein zünftiges Piratenschiff, das die einschlägigen Orte in der Karibik abfährt.

Karl übernimmt dabei die Rolle des klassischen Piraten: bärbeißig, ein wenig begriffsstutzig, aber immer auf Freiheit und Mitbestimmung pochend. Müller ist Kapitän, Kapitänin vielmehr. Sie gestaltet ganz offen den Widerspruch zu Piratenregel Nummer drei, die Frauen und Kinder an Bord verbietet.

Dem Nichterlaubten auf Piratenschiffen spürt dann auch der Haupterzählstrang dieser Eigenentwicklung des Ensembles nach. Denn Schiffsjunge ist das Mädchen Molly, verkörpert von der einzigen Puppe im Stück.

Molly, in Aussehen und Kleidung der Kapitänsfigur verwandt, muss die einschlägigen rauhen Erziehungsriten auf See überstehen. Sie wird, einmal als Mädchen erkannt, auch umgehend eingesperrt, kann sich mit Witz und Keckheit aber auch aus den übelsten Lagen befreien.

Größte Qualität der Inszenierung sind die akrobatischen Momente. Die Leiter wird genutzt, um die vielen Treppen im Schiffsbauch, aber auch die Höhe der Wanten zu illustrieren. Fortwährend wird geklettert, gestolpert, ums Gleichgewicht gerungen. Regelrechte Slapstickeinlagen entwickeln die beiden Spieler.

Auf der zweitobersten Stufe der Leiter markiert ein langes Holzbrett die Rahen. Kapitän, Steuermann und Schiffsjunge befinden sich des öfteren auf ihm und kämpfen in dieser luftigen Höhe mit sich, gegeneinander und gegen die Schwerkraft. Auch die tückischen Winde der Karibik werden dank eines bedrohlichen Schwankens der gesamten Konstruktion eindrucksvoll sichtbar gemacht. "Piraten, Piraten" machte den zur Premiere anwesenden Kindern Spaß. Sicherlich auch deshalb, weil die Zuschauer der ersten Reihen als Kanoniere in die Seegefechte integriert wurden.

"Piraten, Piraten" ist die Jubiläumsinszenierung des Weiten Theaters. Auf mehr als 80 Eigenproduktionen kam die Truppe im Laufe des Vierteljahrhunderts. Spektakulärer Auftakt war damals die "Dreigroschenoper" von Bertolt Brecht und Kurt Weill - ein üppiges Bühnenwerk mit vier Spielern sowie Livemusikern. Mit etwas Wehmut erinnern sich die Mitbegründer Irene Winter und Wieland Jagodzinski noch an diese Zeit; die "Dreigroschenoper" war eines der Einstiegsgeschenke des damals frisch abgewickelten Puppentheater Berlin, eines Ensemblepuppentheaters mit eigener Spielstätte, der heutigen Schaubude Berlin. "Heute machen wir vor allem Solostücke und Stücke für zwei Spieler. Stücke mit drei oder mehr Spielern sind ganz selten. Wie sollen wir die denn bezahlen?", meint Winter.

Die "Dreigroschenoper" steht auch exemplarisch für die internationale Strahlkraft des Theaters. "An einem Abend ohne eine einzelne Vorbestellung tauchte plötzlich eine Gruppe Franzosen in Hellersdorf auf. Sie wollten in der Stadt von Brecht die 'Dreigroschenoper' sehen. Das Berliner Ensemble hatte sie damals nicht im Spielplan, andere Theater ohnehin nicht. Also sind sie nach Hellersdorf gekommen", erzählt Jagodzinski. Das Problem allerdings war: Für nur sieben Leute wollte das Ensemble nicht spielen. Die von weither kommenden Gäste wollte man aber auch nicht unverrichteter Dinge wieder nach Hause schicken. "Also haben wir ihnen die Puppen gezeigt und demonstriert, wie wir mit ihnen spielen. Im Grunde genommen haben wir für sie dann doch den Abend durchgespielt", erinnert sich Jagodzinski. Das dicke Ende kam danach. Der Abend zählte als Vorstellung - und war damit Tantiemen-pflichtig. Generell haben die Tantiemen der Brecht- und Weill-Erben die Aufführung des Stücks zum ökonomischen Drahtseilakt gemacht.

Klassische oder moderne Dramatik befindet sich - abgesehen von Astrid Griesbachs "Tell" nach Schiller - vielleicht auch aus solchen Gründen gar nicht mehr im aktuellen Repertoire der Truppe. 15 Kinderstücke und ein halbes Dutzend Erwachsenenstücke sind gegenwärtig aufführbereit. Vor allem die Kinderstücke sicher das Überleben. "Die Kitas kommen gern. Mit den Schulen ist die Zusammenarbeit problematischer. Es ist schwierig, ganze Schulklassen zum Theaterbesuch zu gewinnen", erzählt Langhans.

Essenziell für das Theater, das gegenwärtig nur zwei feste Dreiviertelstellen - Organisation/Finanzen/PR sowie Technik - finanzieren kann, ist die Partnerschaften mit dem Theater des Lachens in Frankfurt. Mehrere Ensemblemitglieder sind an die Oder gegangen. Stücke werden dort wie in Berlin produziert und an beiden Orten aufgeführt. Für den Sommer 2018 ist ein großen Open Air-Projekt am Wasser in beiden Städten geplant. Jetzt aber werden zunächst die 25 Jahre gefeiert. Etwas Rum gab es schon mal als Premierengeschenk für "Piraten, Piraten".

 

Premiere: 14. Mai 2017

Regie: Björn Langhans
Spiel: Christine Müller & Martin Karl
Ausstattung (Bühne, Kostüme, Puppe): Ira Hausmann
Regieassistenz: Edda Battigelli
Altersempfehlung: 4+

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