Figurentheater Kompanie 1/10, Stuttgart: „Komplex!“
„Totally Hair Barbie“ ist der Renner auf dem Spielzeugmarkt. Die Puppe mit den langen blonden Haaren begeistert bis heute. Nach Herzenslust darf man sie frisieren und stylen. Und sie bereitet Mädchen so ganz nebenbei auf ihre Rolle als Sexualobjekt vor. Dem Zauber mag sich auch Figurenspielerin Coline Petit nicht entziehen. Doch die Künstlerin hinterfragt Klischees. Beim Gastspiel im Stuttgarter Figurentheater FITZ verblüffte sie das Publikum nicht nur mit Gipsabgüssen der makellosen Plastikpuppe. Aus abgeschnittenen Haaren hat die Spielerin Barbies gebastelt. Haare total – den Anspruch erfüllen die kunstvoll geformten Objekte noch mehr als die kommerzielle Plastikversion. Und Coline Petit zertrümmert damit das eingefrorene Schönheitsideal, das Mädchen seit 63 Jahren in falsche Stereotype zwängt. Gerade ein junges Publikum spricht diese kluge, bilderreiche Performance an, die sich an Menschen ab 14 Jahren richtet.
Vergnüglich beginnt der Abend mit einer Karaoke-Einlage. Da trällern Coline Petit und Anna Renner den Song „Barbie Girl“ ins Mikro. Mit dem Hit hat die schwedische Band Aqua der Puppe in den Popcharts ein Denkmal gesetzt. Das Publikum singt begeistert mit. Eigenkompositionen runden den musikalischen Rahmen ab. Vor der Vorstellung begrüßten die zwei ihre Gäste. Sie wollten wissen, wie Frauen aller Generationen mit Barbie aufgewachsen sind. Die Mittfünfzigerin, die ihr ganzes Taschengeld für Barbie-Ballkleider ausgegeben hat, war ebenso dabei wie die junge Frau, in deren Kinderzimmer die überschlanke Puppe streng verboten war.
Eine Lecture-Performance mit Figuren nennt die Kompanie 1/10 ihre 60-minütige Performance, die tief berührt. Das liegt an den großen Bildern, die Regisseurin Iris Keller mit den Spielerinnen aneinanderreiht. Ein Wermutstropfen ist die Dramaturgie. Zu spontan sind die Szenen aneinandergefädelt – wie in einer Perlenkette. Straffere Struktur hätte dem bemerkenswerten Objekttheater gutgetan, das streckenweise ins Happening entgleitet. Da hätte Regisseurin Iris Keller an der einen oder anderen Stelle klarer strukturieren müssen. Zu Herzen geht eine Passage der feministischen Vordenkerin Judith Butler, die von einem Jungen schreibt, der sich wie ein Mädchen bewegte – und deshalb getötet worden ist. Zu unvermittelt steht gerade dieser so starke Text im Raum. Den großen Bildern, die Coline Petit und Anna Renner entwerfen, tut das aber keinen Abbruch.
"Komplex!" © Katharina Kemme
Aus einer rosaroten Plastikkiste purzeln Barbiepuppen auf den kleinen Tisch im Zentrum der Bühne. Lange blonde und brünette Kunsthaare fallen über die Kante. Stilsicher sind die Spielerinnen, was die Theater-Bilder angeht. Und sie räumen auf mit der schrägen Werbestrategie von Mattel, dass Barbie Feministin sei. Zwar löste die vollbusige Blondine mit der Wespentaille die Babypuppen zum Füttern und Wickeln ab, die Mädchen auf ihre künftige Mutterrolle vorbereiten sollten. Barbies verkörpern jedoch ein Frauenbild, das den Mädchen ein falsches Schönheitsideal eintrichtert. Besonders bitter zeigt sich das an der Babysitter-Barbie – die einzige der Puppen, die je ein Buch in der Hand hatte. Doch darin finden sich gefährliche Diät-Tipps: „Hör auf zu essen.“ Angesichts steigender Zahlen von Magersucht unter Mädchen klingen die Worte mehr als zynisch.
Mit einer interaktiven Ausstellung im Foyer endete das Objekttheater. Hässliche Barbies aus Gips, Gummi und Haaren durften die Gäste bestaunen und teilweise auch anfassen. Ihrer schillernden Hülle beraubt, sehen die Puppen alles andere als schön aus. Dass auch sogenannte Diversity-Barbies mit kurzen Haaren und schwarzer Hautfarbe nichts an den gefährlichen Frauenbildern ändern, zeigten Coline Petit und Anna Renner mit ihrem großartigen Objekttheater.
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Figurentheater Kompanie 1/10
Komplex!
Lecture-Performance mit Figuren
Stuttgarter Premiere im FITZ. Das Theater animierter Formen am 19.10.2022
Regie: Iris Keller
Spiel und Bühnenbild: Coline Petit
Spiel und Dramaturgie: Anna Renner
Musikalische Beratung: Marius Alsleben
Musik und künstlerische Mitentwicklung: Li Kemme
Öffentlichkeitsarbeit: Marie-Christine Kesting
Grafik: Lisa Haberer
Fotos, Video und Trailer : Katharina Kemme
Spieldauer: 60 Minuten