Die aktuelle Kritik

Junges Nationaltheater Mannheim: Der Affe von Hartlepool

von Lucia Kramer

Eine düstere Groteske über das Andere, das uns ähnlicher ist, als gedacht.

Am Ende hängt er, der Affe. Erbarmungslos gefoltert und aufgeknüpft von den hasserfüllten Einwohner*innen des Hafenstädtchens Hartlepool. Schon anfangs wurde dem Publikum angekündigt, dass diese Geschichte trotz idyllischen Hafenstadtambientes nicht romantisch enden würde – „sorry!“ – und tatsächlich kommt man nicht umhin, die lebensgroße Affenpuppe ein bisschen zu bemitleiden, wenn sie leblos am Gestänge hängt. Die Geschichte könnte hier zu Ende sein. Doch der Affe spricht ein letztes Mal. Per Livevideo sehen wir das faltige Gesicht in Nahaufnahme, während er von seinem gusseisernen Abbild erzählt, das den heutigen Hafen von Hartlepool ziert, mit der Aufschrift: „make a wish for the monkey.“

Der sogenannte Affe von Hartlepool, von dem hier die Rede ist, entstammt einer englischen Legende: 1814, zur Zeit der Napoleonischen Kriege, gerät ein französisches Kriegsschiff vor der englischen Küste in einen Sturm und kentert. Einziger Überlebender ist das Schiffsmaskottchen, ein Schimpanse, gekleidet in eine französische Uniform. Die kleinbürgerlichen Hartlepooler*innen, hasserfüllt und voller Groll gegen ihren Feind, kombinieren messerscharf: Er stinkt, gibt seltsame Laute von sich und frisst Frösche und Schnecken – das muss ein Franzose sein. (Einen echten haben sie noch nie zu Gesicht bekommen.) Somit ist das Schicksal des Primaten besiegelt. Er wird wegen Spionage verurteilt und anschließend gehängt. Wilfrid Lupano und Jérémie Moreau haben einen preisgekrönten Comic über diese Legende verfasst, der der Mannheimer Inszenierung als Vorlage diente.

Angesichts des momentan allgegenwärtigen Rechtsrucks in Europa ist dies ein hochaktueller Stoff, der das Phantasma des monströsen Anderen auf die Schippe nimmt und dabei die grausamen Konsequenzen rassistischen Denkens in aller Deutlichkeit vorführt. Regisseur Mathias Becker und sein Team haben für ihr Stück eine sehr eigene Setzung gefunden: Die Geschichte wird uns von vier Affenwesen erzählt – dargestellt von den Ensemblemitgliedern Johannes Bauer, Carlotta Freyer, Sebastian Reich und der Puppenspielerin Friedericke Miller, mit Affenmasken und metallenen Krücken als Armverlängerung. Schon beim Einlass turnen die vier durch den düsteren Bühnenraum, der mit Kletternetzen, einem großen blauen Metallrohr und einer hölzernen Transportbox gleichermaßen an ein Affengehege wie an eine Industriehalle erinnert (Bühne, Kostüme und Puppenbau: Gildas Coustier).

Auf ein rot blinkendes Signal hin, kommen die vier in der Bühnenmitte zusammen und erzählen – teils in chorischen Textpassagen, teils szenisch – die Geschichte ihres ermordeten Artgenossen. Mithilfe von neonfarbenen Kostümteilen, deren Form an das 19. Jahrhundert erinnert, Stoff und Farbe jedoch an heutige Arbeitsbekleidung, schlüpfen sie abwechselnd in die Figuren: Ob der grausame Franzosenkapitän (mit neongelbem Dreispitz), der geltungssüchtige Bürgermeister, der von Rache zerfressene Kriegsveteran oder seine zweifelnde Enkelin – die grauen, verkniffen dreinblickenden Affenmasken und das stark körperliche Spiel, in das sich schon mal ein Achselkratzen oder Affengrunzen mischt, verleihen dem Geschehen etwas Groteskes.

Als Sympathiefigur dient da nur noch der „andere“ Affe, die lebensgroße Gliederpuppe mit freundlich offenem Gesicht. Der Holzbox entschlüpft, erlebt sie einen kurzen Moment der Freiheit, wenn sie von den vier Spieler*innen geführt, durch den Raum wirbelt. Der Sturm auf hoher See hat den Affen von seinem domestizierten Maskottchen-Dasein an den Strand seiner baldigen Henker*innen gespült. Von nun an ist er in Ketten gelegt (und die freundliche Puppe damit leider nur noch selten im Einsatz) und wird von den Hartlepooler*innen gequält. So wie rassistisches Denken nur möglich ist, wenn die Ähnlichkeit des Anderen konsequent verleugnet wird, scheinen auch die Affenwesen ihre physiognomische Verwandtschaft zu diesem „Franzosen“ nicht zu bemerken. Das Andere ist uns eben manchmal ähnlicher, als wir wahrhaben wollen.

Hin und wieder kommt die Affen-Puppe dann doch noch vor. Mithilfe eines auf zwei Stoffbahnen projizierten Livevideos gibt man dem Affen eine Stimme: Das Tier erzählt die lange Geschichte seiner Beherrschung, über die Grenzen der Zeit hinweg. Zum Beispiel vom Affenweibchen Chimpanzee, das 1738 als erste seiner Art den Europäischen Kontinent betrat und von seinen Peiniger*innen in ein Seidenkleid gesteckt und zum Teeservieren gezwungen wurde. Die ganze Inszenierung ist von diesen kurzen, schlaglichtartigen Momenten durchzogen. Zweimal taucht sogar die Figur des Entdeckers James Cook auf, der über die Messbarkeit der Welt philosophiert. So entsteht eine Diskursebene, die die Geschichte – bisweilen arg assoziativ und verklausuliert – mit Bildern anreichert, die von Macht und Ohnmacht erzählen, von der Trostlosigkeit Hartlepools und von vielem mehr. Über all der wichtigen Empathie mit dem Affen gerät das Thema Fremdenfeindlichkeit ein bisschen aus dem Blick. Denn bei all dem darf man nicht vergessen: Wäre es nach den Hartlepooler*innen gegangen, hätte am Ende ein echter Franzose am Strick gebaumelt.

 

Premiere: 23. Februar 2018

Mit: Johannes Bauer, Carlotta Freyer, Friedericke Miller und Sebastian Reich
Regie, Textfassung: Mathias Becker
Bühne, Kostüme, Puppenbau: Gildas Coustier
Maskenbau: Gonzalo Barahona
Dramaturgie: Lisa Zehetner
Theaterpädagogik: Julia Waibel
Regieassistenz: Thomas Paul Mayer

Fotos: Christian Kleiner

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