Die aktuelle Kritik

Westflügel Leipzig: "Makariens Archiv"

Von Tim Sandweg

Eine Tänzerin und ein Figurenspieler versuchen, Spuren der Erinnerung zu hinterlassen.

 

      

Fotos: Michael Vogel

 

Lass mich deine Spur sein

Was bleibt übrig von dem Meer der angehäuften Objekte der Jetztzeit? Alles passt nicht ins Archiv, die zwei Kollegen Zufall kämpfen darum, dass wenigstens ihre Lieblingsdinge aufgenommen werden und nicht im Orkus der Geschichte verschwinden. Mit jedem Blatt, das vom Kalenderjahr abreißt, wird aber das Epienzentrum Erinnerungsraum wie der auf dem Bühnenboden gestapelten blütenweißen Papierflächen kleiner. Wer soll auch all das Zeug erinnern, das da über den Bühnenboden mäandert? So müssen die Archivare immer neu ihren Kampf spielen, bis eine Dekade später nur noch ein Ding übrig und aufbewahrt bleibt. Das war dann also die Vergangenheit.

Die Tänzerin Alisa Olejnik und der Figurenspieler Stefan Wenzel versuchen im Erinnerungsraum des Ding- und Materialkosmos der deutsch-russischen Koproduktion „Makariens Archiv“ solche Spuren der Erinnerung zu hinterlassen: Als schwarz geschriebene Zeichen auf weißem Papier, als Notenfußabdrücke im Sand, die der Wind verwischen wird – so wie der Wanderer auch heute hier, morgen dort weilt und von den Dagebliebenen schnell wieder vergessen sein wird. Ähnlich wie das titelgebende Aphorismen-Konvolut aus Johann Wolfgang von Goethes Spätwerk „Wilhelm Meisters Wanderjahre“ wandelt das Spiel durch abstruse, assoziative Gegenwelten und entwickelt so ein Bilder-Geäst als Kommentar zum Textdickicht.

Wie im Roman werden Briefe geschrieben und wild durch die Gegend geschickt, bis niemand mehr weiß, wer eigentlich was für wen und warum geschrieben hat: Das Schreibpapier zieht sich auch ganz materiell über die Bühne und wird, wie im Roman zum zentralen Motiv, wenn Briefe geknüllt statt erdichtet werden, eine filigrane Marionette versucht, sich von ihrem weiß-knisternden Schwanz zu befreien, oder wenn die Performer von großen Bahnen umwickelt über den Boden rollen. Auch wenn die Momente aufkeimen, in denen sich eine Nähe zwischen diesen Archivaren, diesen Umwegs-Briefschreibern herstellen könnte, bleiben sie auf Abstand, kommunizieren nur über die Dinge, die sie umgeben. So etwas wie Intimität scheint es hier nicht zu geben, es gibt immer das Dazwischen, sei es aus Material, Musik oder Puppe.

„Es gehört dieses Werk übrigens zu den incalculabelsten Productionen, wozu mir fast selbst der Schlüssel fehlt“, lässt sich der Autor selbst zu seinem Werk zitieren. Dem Zuschauer der Bühnenübersetzung geht es ganz ähnlich: Der Reigen der Bilder entwirft eine eigene Welt, die ihrer eigenen Logik folgend für den Zuschauer kaum zugänglich ist und recht ungreifbar bleibt. Vielleicht gehen die ästhetischen Zugriffe des Regisseurs Pawel Semtschenko von der russischen Gruppe AKHE und des Ausstatters Michael Vogel vom Leipziger Figurentheater Wilde & Vogel, wenn sie gemeinsam diese Wabe der Anti-Wirklichkeit bilden, fast schon zu harmonisch zusammen – sie ergänzen sich mehr, als eine Reibung zu erzeugen. Die Performer drohen stets, sich in diesem ästhetischen Kosmos zu verirren und im Anhäufen der recht unverbunden bleibenden Bilder ihre Haltepunkte zu verlieren – ein Netzgefüge, das vielleicht die Erinnerungen ausmacht, entsteht so nicht, eher das unkommentierte Nebeneinander des chaotischen Aufbewahrens. So scheint ihnen tatsächlich der Kopf im Weltall, umrundet von Papier-Planeten mit krauser Hinrindenoberfläche, mehr und mehr zu schwirren, wenn die Objekte ihr Eigenleben ausagieren und Stefan Wenzels Duschambitionen in einen Slapstick-Ritt enden lassen.

Am Ende, als die beiden Archivare sich längst aufgemacht haben in die Welt jenseits dieser Kapsel, steht der einsame Wanderer, auch weiß und sehr mechanisch, im Scheinwerferkegel. Er versucht von der Stelle zu kommen, stößt immer wieder seinen Wanderstock in den Boden und bleibt doch stehen. Was für Spuren er wohl hinterlassen wird?

 

Makariens Archiv

Premiere: 2.10.2013

Eine Produktion des Lindenfels Westflügel Leipzig und FITZ! Zentrum für Figurentheater Stuttgart in Kooperation mit dem Ingenieurtheater AKHE Petersburg und Figurentheater Wilde & Vogel
Spiel: Alisa Olejnik, Stefan Wenzel
Ausstattung: Michael Vogel
Regie: Pawel Semtschenko

 

 

In Zusammenarbeit mit double - Magazin für Figuren-, Puppen- und Objekttheater

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